Jessenins Blick zu Hebel und Uhland



Von Hartmut Löffel
I
Sergej Alexandrowitsch Jessenin, berühmter und berüchtigter Exzentriker seiner Zeit, ist auch das Enfant Terrible der russischen Literatur. Dabei schuf er einen ganz eigenen, modernen Ton, der auch heute noch durchaus zeitgenössisch klingt. Man könnte an Heine denken, und manchmal findet man in der Tat bei Jessenin das Echo einer solchen Lektüre. Er hat überhaupt viel gelesen und weit über den russischen Tellerrand hinausgeblickt. Es geht ihm um Weltliteratur. Was sagt er selbst dazu?
In seinem Aufsatz »Marienschlüssel« gibt er Hinweise, wen er dazurechnet. Dies erlaubt natürlich auch Rückschlüsse auf ihn selbst. Er schreibt im zweiten Kapitel: »Die Kunst unserer Zeit kennt keinen solchen Fruchtknoten, weil der Umstand, dass er in Dante, Hebel, Shakespeare und anderen Künstlern des Wortes lebendig war, für seine heutigen Anwender zu einem toten Schatten geworden ist.«
Erstaunlich: Hebel von Dante und Shakespeare eingerahmt, sozusagen in ihrer Mitte! Das ist ungewöhnlich. Kaum ein Deutscher würde eine solche Wertung wagen. Als Hemmnis kommt noch dies hinzu: In manchen deutschsprachigen Literaturgeschich­ten wird Hebel gar nicht erwähnt und wenn ja, dann nur als regionaler Autor bzw. als Vertreter von Heimatliteratur. Allerdings ist er in Schulbüchern – anders als Uhland – mit Geschichten aus seinem Erzählband »Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes« vertreten. Freilich: Jessenin ist mit seiner Hochschätzung nicht allein, denn es waren und sind vor allem Autoren, die Hebel bewundern. Dazu gehörten unter anderen Johann Wolfgang von Goethe, Jean Paul, die Brüder Grimm, Gottfried Keller, Franz Kafka, Hermann Hesse, der Philosoph Ludwig Wittgenstein und im Ausland besonders Ernest Hemingway und Lew Tolstoi. Hemingway hielt den Erzähler des »Schatzkästleins« für einen der Größten und Lew Tolstoi soll sogar Passagen aus den »Allemannischen Gedichten« auswendig gelernt haben. Und das bei einem Dialekt, der wirklich nicht leicht zugänglich ist! Deshalb kommt heutzutage eine zweisprachige Ausgabe sehr gelegen. In neuester Zeit rückt Hebel allerdings wieder stärker in den Vordergrund. In der »Zeit-Bibliothek der 100 Bücher« finden wir tatsächlich Hebel und Dante zusammen. Da keine Gedichte und Dramen berücksichtigt wurden, fehlen leider Shakespeare und Jessenin in dieser Auswahl.
Und wie sah es am Anfang aus? Hebels Projekt war ein Wagnis, denn er versuchte, dem Dialekt gleichberechtigt neben der Hochsprache Geltung zu verschaffen. Auf diesem neuen Weg traute er sich zuerst nicht, als Autor seinen vollen Namen preis-zugeben und ließ 1803 nur seine Initialen J.P.H. drucken. Es kam ihm aber zugute, dass Goethe bereits 1804 eine ausführliche Rezension über die »Allemannischen Gedichte« verfasste. Sein wohlwollendes, aber nicht ganz folgenloses Resümee über den Autor lautet so:

»Er hält sich besonders in dem Landwinkel auf, den der bei Basel gegen Norden sich wendende Rhein macht. Heiterkeit des Himmels, Fruchtbarkeit der Erde, Mannigfaltigkeit der Gegend, Lebendigkeit des Wassers, Behaglichkeit der Menschen, Geschwätzigkeit und Darstellungsgabe, zudringliche Gesprächsformen, neckische Sprachweise, so viel steht ihm zu Gebot, um das, was ihm sein Talent eingibt, auszuführen.« Ein kurz vorher geäußerter Satz fasst aber all dies so zusammen: »So verwandelt der Verfasser diese Naturgegenstände zu Landleuten und verbauert auf die naivste, anmutigste Weise durchaus das Universum.«

Die Verkleinerung des großen Universums also zum heimatlichen Hinterland, zur dörflichen Idylle, zum bäuerlichen, manchmal auch etwas beschränkten Winkel setzt natürlich auch ein Zeichen, Hebel der Heimatliteratur zuzurechnen. Jessenin andererseits sollte eigentlich als erklärter Bauerndichter gerade an dieser Landschaft, an der Bodenständigkeit der Leute und ihrem Dialekt Freude gehabt haben. Ob er ihn aber selbst so wie Tolstoi lesen konnte?
Es gibt in seinem Aufsatz »Marienschlüssel« eine weitere Stelle, wo er nun präzisiert, wer für ihn zur Weltliteratur zählt und womit. Sein Blick streift weit durch Zeiten und Länder und nennt jeweils die »besten Werke«. In dieser Bestenliste werden einerseits kollektive Werke angeführt, wie die Bibel oder die Edda, andererseits individuelle Werke hervorgehoben. Wiederum ist Hebel vertreten und ganz unerwartet Uhland. Ein Satz zum »Wesen des Schöpfertums« und des »Bildes« lautet: »Was das rein individuelle Schaffen betrifft, so hat Edgar Poe sein ›Eldorado‹ darauf begründet, Longfellow das ›Lied von Hiawatha‹, Hebel sein ›Gespräch in der Nacht‹, Uhland sein ›Festmahl im Himmel‹ (…)«
Die russische Literaturforschung rätselte bisher, welche deutschen Gedichte Jessenin überhaupt meint. Da hat er wohl schreibend aus dem Gedächtnis zitiert! In Wirklichkeit handelt es sich um Hebels Gedicht »Die Vergänglichkeit« mit dem Untertitel »Gespräch auf der Straße nach Basel zwischen Steinen und Brombach, in der Nacht« und um Uhlands Ballade »Die sterbenden Helden«.

II
Kein ländliches Sujet also hat sich Jessenin ausgewählt, nicht etwa die hochgelobte »Sonntagsfrühe«, die Goethe in seiner Rezension abgedruckt hat, während er »Die Vergänglichkeit« nur ne­benbei erwähnt. War er ihm zu unbehaglich, dieser grandiose Totentanz?
Ein Vater fährt mit seinem Sohn auf einem Ochsenkarren nach Basel. Es ist tiefe Nacht. Als sie an einer Schlossruine vorbeikommen, stellt der Sohn angstvoll die Frage nach dem Verfall auch des eigenen Hauses. Der Vater bestätigt es und entwirft nun ein unerbittliches Szenario, wie er doch sterbend selbst davon betroffen sei, dann auch sein Sohn, das ganze Dorf und schließlich sogar Basel »ins Grab versinkt« – bis »mit der Zeit die ganze Welt verbrennt«. Und auch diese Phase des Endschicksals malt er anschaulich aus. Dann am Schluss weist er seinen Sohn auf das Jenseits hin, im Besonderen auf »eine verborgene Stadt«, die ihn nach dem richtigen Lebenswandel erwarte und wo er seine Lieben wiedersehe. Von dort könne er auch auf die zerstörte und nun ungeliebte Erde zurückblicken.
Eine überaus bildhafte Vision, die unter die Haut geht, den Sohn aber in Angst und Schrecken versetzt! Und trotzdem fragt er weiter:

Der Aetti seit: (…) der Himmel stoht im Blitz, und d’Welt im Glast. / Druf gschieht no viel, i ha iez nit der Zit; / und endli zündets a, und brennt und brennt, / wo Boden isch, und Niemes löscht. Es glumst / wohl selber ab. Wie meinsch, siehts us derno?
Der Bueb seit: O Aetti, sag mer nüt me! Zwor wie gohts / de Lüte denn, wenn Alles brennt und brennt?
Der Aetti seit: He, d’Lüt sin nümme do, wenns brennt, sie sin – / wo sin sie? Seig du frumm, und halt di wohl, / geb, wo de bisch, und bhalt di Gwisse rein! / Siehsch nit, wie d’Luft mit schöne Sterne prangt!

Der Vater bricht seine apokalyptische Zuspitzung erst ab, als er nicht mehr weiterweiß. Dann geht der Blick zu den Sternen hin-auf als Übergang zum Jenseits, dem Finale des Poems. Was für ein grausamer Aufklärer! Hätte er nicht begütigend seinem Sohn nur einen Teil zumuten und ihm stattdessen etwa die Sternbilder erklären können? Sein Ziel und Hintergedanke ist aber viel mehr, dem Sohn Frömmigkeit und Gottesfurcht beizubringen. Und da scheint ihm nicht Beschwichtigung angemessen, sondern ein Schock. Wie auch der Stock gewiss zuhause jederzeit bereitsteht. Für Hebel war Härte und Strenge, ganz im Sinne seiner Zeit, ein wichtiger Teil der Erziehung. »Wenn’s nur an Warnung und an Zucht nicht fehlt«, lautet die Schlusszeile in seinem Gedicht »Eine Frage« und sogar im Weihnachtsgedicht »Die Mutter am Christabend« ist die Rute, mit einem Bändchen geschmückt, mit ins Fest eingebunden – durchaus als Ausdruck der »Mutterliebe«!
Jessenin waren 100 Jahre später solche Erziehungsmethoden keineswegs fremd. Seinen Autobiografien nach hat er sie bei seinem sonst liebevollen Großvater gesehen und erlebt – und ebenfalls den Zwang zur Gottesfurcht. Mag er beim Lesen dieses Gedichts daran gedacht haben, ausgewählt hat er es gewiss aus einem anderen Grund: Hier geht es um die letzten Dinge des Lebens und um zugespitzte Erzählkunst, die diese existentielle Grenzsituation vor Augen führen kann. Hebel verwendet dabei das Versmaß des klassischen Dramas, den Blankvers, und sein Dialogstück ist durchaus auch als kleines Drama komponiert: Auf die Exposition mit der Frage des Sohns folgt die sich dreistufig steigernde Vernichtungsvision bis zum erlösenden Aufatmen im letzten Teil.

III
Dass Jessenin Uhlands Gedicht »Die sterbenden Helden« im gleichen Atemzug mit der »Vergänglichkeit« von Hebel nennt, lässt aufhorchen. In der Tat wirft dieses Gedicht auch ein be-zeichnendes Licht auf Hebels Kunstwerk. Nun also zu Uhland!
Um Uhland ist es im Unterschied zu Hebel ziemlich still geworden. Seine Volkslieder sind nicht mehr im Repertoire der Zeitgenossen, und seine Balladen mit ihren mittelalterlichen Stoffen, wie es die Romantik liebte, kaum mehr gefragt. Dies hat nur noch wenig mit der Popularität von einst zu tun, und es ist erstaunlich zu lesen, wie beliebt Uhland zu seiner Zeit war: Seine Gedichte, die zum ersten Mal 1815 erschienen, brachten es bis 1884 auf 64 Auflagen. Sie wurden weithin übersetzt und viele auch vertont. Man muss sich die Augen reiben, wenn man erfährt, dass Uhland damals neben Schiller und Goethe der dritte gefeierte Nationaldichter war. Hinzu kam der Ruhm seiner politischen und auch wissenschaftlichen Laufbahn. Kein Wunder also, dass Jessenin Gedichte von Uhland zu Gesicht bekam! Ob er wohl auch die thematisch ähnliche Ballade »Des Sängers Fluch« gekannt hat?
Die Ballade »Die sterbenden Helden« wird von Uhland – ganz typisch für ihn – ins Mittelalter, hier nach Skandinavien, verlegt und der nordischen Mythologie zugeordnet: mit Odin als Göttervater und seiner Himmelsburg Walhall, wo die Helden bewirtet und ausgezeichnet werden. Wiederum handelt es sich um einen Dialog zwischen Vater und Sohn. Wiederum ist es Nacht. Und wiederum steht die Existenz der beiden auf dem Spiel: dieses Mal aber unmittelbar! Gegenüber aller Vergänglichkeit ist auch jetzt der Himmel Ort der Dauer, der Belohnung und des Wiedersehens. Der Vater ist hier freilich angesichts des Todes ein Tröstender und möchte seinem Sohn das Sterben leichtmachen.
Unvergänglich freilich ist die Dichtkunst, und sie findet sogar im Himmel ihre Fortsetzung. So viel konnte Jessenin nur wünschen und hoffen! Den christlichen Himmel freilich wollte er sich anders vorstellen – lieber einen mythologischen wie etwa in diesem Gedicht. Formuliert er doch einmal, wie er die christlichen Heiligen und Himmelsgestalten am liebsten so sehen würde wie jene, »die für uns zum Mythos geworden sind: Osiris, Johannes, Zeus, Aphrodite, Athene usw.«
Dass er an ein Jenseits glaubte, können wir z. B. im Brief an Grigori Panfilow vom November 1912 nachlesen. Wie es aber aussehen würde, das blieb im Dunkeln, eher wie es gewiss nicht aussah. Doch auf ein späteres Wiedersehen ließ er sich bis zuletzt ein. Hier die erste und die letzten zwei Strophen eines Gedichts von 1924, das vielleicht auch mit »Der sterbende Held« überschrieben sein könnte. Dieser muss aber alles selbst auskämpfen, ohne väterliche Belehrung, und wird später das Schwert gegen sich selbst richten.

Mählich heißt’s in jenes Land entschreiten, / wo es Ruh gibt und Glückseligkeit. /
Meine irdischen Habseligkeiten / mach auch ich bald für den Weg bereit. (…)
Weiß wohl, daß dort keine Wälder blühen, / daß kein Roggen singt mit Schwanenhals, / angesichts der Unzahl der Verschiednen / überläufts mich immer wieder kalt.
Weiß wohl, daß sich dort nicht dieses Feuer / goldner Fluren in das Dunkel webt. /
Darum, Menschen, seid ihr mir so teuer, / die ihr hier mit mir auf Erden lebt.

Andererseits: Die große Angst des Heldensohnes Sven in Uhlands Ballade, nämlich sein Werk nicht mehr vollenden zu können, dürfte Jessenin keineswegs fremd gewesen sein. Neben seinen Todesahnungen, den Abschiedsgedichten von 1924 und 1925 und der Vision im Gedicht »Schneesturm«, wo er sich am Schluss schon selbst als Toten sieht, begegnen wir auch diesem Gedanken: »Zwar ist hier nicht alles gesagt. Doch ich denke, daß es für mich einstweilen noch zu früh ist für ein Fazit. Leben und Schaffen liegen noch vor mir.« Und auch dieser Satz lässt aufhorchen: »Ich arbeite auf Hochtouren, als müste ich mich beeilen, um fertig zu werden.« Ein unverkennbares Spannungsfeld! Und dazu kommt bei Jessenin noch ein zweites: der Widerstreit zwischen Selbstsicherheit und Selbstzweifel. Ein Held wie Sven ist davon natürlich nicht geplagt. Und er weiß auch genau, auf welcher Seite er politisch steht. Bei Jessenin ist das anders – mit Fragen über Fragen in seinen Gedichten: Bin ich denn ein wirklicher Dichter oder nur ein Versemacher? Habe ich das Richtige geboten oder hätte ich nicht besser anderes bieten können? Und wie ist es mit Rang und Ruhm? Verdiene ich ein Denkmal wie Puschkin? Ja, in Rjasan möglichst eines – aber nein, doch lieber nicht!


IV
Uhland war ebenfalls ein Selbstzweifler. Doch nur in der einen Hinsicht: dass er hätte anderes bieten müssen! Sein poetisches Scheitern ist in seiner Ballade »Des Sängers Fluch« verschlüsselt dargestellt. Auch dort treten Vater und Sohn auf, beide als Sänger. Der Vater spielt Harfe und der Sohn singt zusammen mit ihm ihre Lieder. Sie haben sich die Aufgabe gestellt, damit einen Tyrannen zu beeindrucken: »Es gilt uns heut, zu rühren des Königs steinern Herz.« Gelingt es ihnen? Der ganze Hofstaat schmilzt in der Tat dahin, und die Königin wirft den beiden sogar eine Rose zu. Doch der König wirft ihnen aufgebracht Verführung vor: »Ihr habt mein Volk verführet, verlockt ihr nun mein Weib?«, und er durchsticht wütend den Sohn. Der Vater zerschmettert daraufhin sein Instrument an einer Marmorsäule und verflucht diesen Mörder und sein Schloss. Seine Untergangsbeschwörung erfüllt sich genau so – und so radikal, wie sie der Vater bei Hebel entwickelt: »Versunken und vergessen«, so endet die Ballade.
Und was haben die zwei Sänger denn gesungen? Eine Strophe erzählt es:

Sie singen von Lenz und Liebe, von sel’ger goldner Zeit, / Von Freiheit, Männerwürde, von Treu und Heiligkeit, / Sie singen von allem Süßen, was Menschenbrust durchbebt, / Sie singen von allem Hohen, was Menschenherz erhebt.

Um traditionelle Themen und Lyrik handelt es sich also, um zwar rührende Gesänge und Klänge, aber den Herrschenden erreichen sie nicht. Solche Poesie ist letztlich wirkungslos. Uhland hat die Konsequenzen gezogen, das Dichten weitgehend an den Nagel gehängt und sich politisch engagiert. Heine schreibt darüber 1835 in seiner »Romantischen Schule«: »Mit geringen Ausnahmen hat er seit zwanzig Jahren keine neue Gedichte zu Markte gebracht. (…) Ich erkläre mir das Verstummen Uhlands vielmehr aus dem Widerspruch, worin die Neigungen seiner Muse mit dem Widerspruch seiner politischen Stellung geraten sind. (…) Aber eben weil er es mit der neuen Zeit so ehrlich meinte, konnte er das alte Lied von der alten Zeit nicht mehr mit der vorigen Begeisterung weiter singen.« Heine hat andererseits vorgeführt, wie man poetische und politische Dichtung unter einen Hut bringen kann.
Jessenin stand ebenfalls vor diesem Problem. Er machte nur einen halben Schritt zu politischer Dichtung hin und litt darunter. Letztlich saß er zwischen zwei Stühlen. Den Ton einer neuen Zeit hat er allerdings einmalig getroffen. Und das war ihm durchaus bewusst. Verstummt ist er trotzdem auf seine Weise.

V
Die Frage ist nun, ob und wie sich Jessenins Hochschätzung von Hebel und Uhland auf sein eigenes Werk ausgewirkt hat. Im Rahmen unserer zwei Gedichte fällt ein Poem unweigerlich auf: »Der Schwarze Mann«. Und warum? Struktur und Thematik sind verwandt. Wieder handelt es sich um eine existentielle Grenzsituation in der Nacht, wieder um ein Belehrungsgespräch zwischen einem Mahner und einem Ermahnten und auch der Himmel ist wieder Thema. Doch wie entwickelt Jessenin sein »dramatisches Gedicht«?
Nach der Anrufung des fernen Freundes kommt es zum ersten Dialog zwischen dem Schwarzen Mann und dem nächtlich Heimgesuchten. Mit der Anspielung auf einen Toten und mit dem Vorlesen aus dem Buch des Lebens ist sofort klar, dass es sich um eine Art Jüngstes Gericht handelt. Der Richter wägt allerdings die guten und verfehlten Seiten des Angeklagten besonnen ab. Die­ser aber wehrt sich trotzig gegen solche Vorhaltungen. Im zweiten Gespräch, wiederum nach der Anrufung des Freundes und nach der poetischen Szene am Fenster, durch das der »Schlafwandler« hinausschaut, eskaliert die Auseinandersetzung. Der Schwarze Mann – dem Aussehen nach wie ein Zirkusdirektor – wird nun zum Übervater, der seinem missratenen Schützling schonungslos ins Gewissen redet, zudringlich und mit verletzenden verbalen Hieben auf den Daliegenden eindrischt, bis dieser von der Züchtigungsrede genug hat, seinen Stock nimmt, zuschlägt – und erkennen muss, dass er auch der Andere ist, der ihm zu Recht einen Spiegel seines Lebens vorgehalten hat. Gewiss keine pädagogische Meisterleistung des Schwarzen Mannes, dem es doch eigentlich auf Einsicht und Umkehr ankommt! Hier der Schluss:

»Schwarzer Mann – / Widerlich bist du Gast. / Doch man weiß ja, welcher / Ruf dir vorausgeht.« / Ich koche vor Wut. / Mein Spazierstock klatscht / Zwischen Nase und Stirn / Ihm genau in die Schnauze. // Tot ist der Mond. / Der Morgen vorm Fenster kommt grün. / Nacht, ach Nacht, / Was hast du verpfuscht und verschwiegen? / Ich steh im Zylinder, / Niemand ist bei mir … / Allein bin ich … / Und der zerschlagene Spiegel …

Anders als bei den Dialogen Hebels und Uhlands, wo die verwandtschaftlichen Beziehungen patriarchalisch eindeutig bestimmt sind, endet dieser Dialog in einer gewalttätigen Auflehnung. Die Helden bei Uhland kämpfen gegen andere und nicht gegeneinander. Und der offensiv argumentierende Vater bei Hebel spricht zu einem Sohn, der mit offenen Ohren zuhört und sich noch nicht wehren kann und will.
Jessenins Poem ist überlegt durchkomponiert wie Hebels »dramatisches Gedicht«. Und auch bei Jessenin handelt es sich eigentlich um ein Kurzdrama. In fünf Schritten kommt es zur Katastrophe: mit der Einleitung, dem ersten Dialog, dem Intermezzo am Fenster, dem zweiten Dialog und dann dem Finale. Und ebenso zeigt sich bei ihm wie im Gedicht »Die Vergänglichkeit« die Dominanz des Mahners durch seinen ausufernden Redefluss, während der Belehrte nur wenig sagt und nur zwischendurch reagiert.
Jessenin wies wiederholt auf die Quelle hin, die ihn auf den Schwarzen Mann gebracht hatte, nämlich eine Passage aus der zweiten Szene von Puschkins »Mozart und Salieri«: »Bei Tag und Nacht lässt mich mein schwarzer Mann / nicht mehr in Ruh, und hinten überall / verfolgt er mich als Schatten. Grade jetzt /so scheint mir, sitzt er selber unter uns / als Dritter …«
Der Schwarze Mann ist hier der Auftraggeber des Requiems, zugleich aber auch ein Vorbote des Todes. Uhland stellt in seiner Ballade »Der schwarze Ritter« gerade den Tod so vor Augen. Doch dieser Quälgeist wird nicht wie jener bei Jessenin als nur geträumt aufgelöst bzw. als seelische Abspaltung relativiert – Sigmund Freud spricht einmal vom »verdrängten Doppelgänger« – , sondern er existiert real und hat als Tötender das letzte Wort. In der Parapsychologie ist der Schwarze Mann eine feste Größe. Er trägt einen Hut bzw. einen Zylinder, einen schwarzen Mantel, hat einen Stock und redet gar nicht oder sehr wenig. Der zweite Auftritt des Schwarzen Mannes in Jessenins Poem erinnert zunächst an diese Figur, doch seine rhetorische Begabung geht dann weit darüber hinaus. Vergessen wir nicht den Schwarzen Mann im Laufspiel der Kinder »Wer hat Angst vor dem Schwarzen Mann?« Wenn er als Fänger von der Gegenseite auf eine Gruppe zuläuft, muss man an ihm vorbeikommen, ohne berührt zu werden – ein Hinweis, dass er ursprünglich vielleicht eine Verkörperung der Pest war. Mut und Schnelligkeit sind nötig, um ihm davonzulaufen. Auch Jessenin hat keine Angst vor seinem Schwarzen Mann, er erwehrt sich seiner – und läuft damit eigentlich vor sich selbst davon. Dass er sich auch bewusst als so eine schwarze und zugleich faszinierende Schreckfigur inszeniert hat, erfahren wir durch einen Brief an seinen Freund Anatoli Marienhof. Der Schwarze Mann im Poem ist also umso mehr Jessenin selbst!
Bei Uhland gibt es in seiner Ballade »Graf Richard Ohnefurcht« einen solchen besonders Mutigen. Als er betend im Münster am Altar kniet, rührt sich ein Leichnam in seiner Nähe auf einem Gestell. Der Ritter verwehrt ihm das. Doch als er gehen will, nähert sich ihm das »Gespenst«, als wolle es ihn mit Gewalt festhalten. Der Ritter schlägt ihm tapfer den Kopf entzwei und schafft sich so sein Problem mit dem Schwert vom Leib, obwohl es sich um einen Scheintoten handeln könnte! Jessenin vertreibt »sein Gespenst«, ähnlich zuschlagend, mit einem Stock.
Jessenin begegnete in Hebel und Uhland zwei Volksdichtern, die fest auf dem Boden der Wirklichkeit standen. Hebel wäre zwar zu gerne in seinem Leben wieder wie früher gewandert und gereist, sogar ein bisschen herumvagabundiert – sicher ein Mitgrund, warum er in seinen Erzählungen auch Außenseiter der Gesellschaft so liebenswürdig schildert – , doch er wurde immer wieder ernannt und zu weiteren Aufgaben berufen. Unweigerlich kletterte er auf der Karriereleiter höher und setzte sich dabei als Theologe und Pädagoge vielfältig für seine Mitmenschen ein. Auch Uhland brachte es, freilich unter größeren Schwierigkeiten, zu einer bemerkenswerten politischen und wissenschaftlichen Lauf­bahn. Beide also sind Gegenbilder zum getriebenen Sergej Jessenin. Hebel hat ihn auf andere, eben literarische Weise beeindruckt. Er habe, wie er einmal sagte, Hebel sehr geschätzt und sei von ihm erheblich beeinflusst worden. Sicher stieß er bei ihm nicht nur auf sein eigenes Hauptthema: die Vergänglichkeit, sondern vor allem auch auf eine anregende Dialogstruktur, die ihm in den 1920er Jahren wichtig wurde. Er konnte sie auch in Hebels »Der Karfunkel« entdecken, wiederum in einem Erzählgedicht, in dem ein Vater seinen Kindern eine gruselige Dialog-Geschichte vorsetzt. Und natürlich, wie zu sehen ist, auch bei Uhland!
Uhland war nicht der große Bekenntnisdichter wie Jessenin. Im Gegenteil, er versteckte sich hinter seinen Gedichten. Wie sehr, das sieht man gerade nach der Lektüre vom »Schwarzen Mann« in den folgenden drei Strophen mit dem Titel »Schwere Träume«:

Das war mir eine schwere Nacht, / Das war ein Traum von langer Dauer; / Welch weiten Weg hab ich gemacht / Durch alle Schrecken, alle Schauer! //
Der Traum, er führt’ mich an der Hand, / Wie den Äneas die Sibylle, / Durch ein avernisch dunkles Land, / Durch aller Schreckgestalten Fülle. //
Was hilft es, daß die Glocke rief / Und mich geweckt zum goldnen Tage, / Wenn ich im Innern heimlich tief / Solch eine Hölle in mir trage?

In gewissem Sinn hat Jessenin das vorgeführt, was Uhland hier nur benennt: diese innere Hölle! Uhland zieht sich hinter einen Wie-Vergleich zurück und belässt es stellvertretend bei mytho­logischen Figuren. Der Traum aber führt ihn behutsam an der Hand in die Unterwelt. Was kann ihm dabei schon Schlimmes passieren? Doch der Haupteinwand gegen diese bloße Besichtigung ist, dass wir kaum etwas zu sehen bekommen. Wir hätten von Uhland nur zu gerne viel mehr über jene Schreckenswelt gewusst! Ist uns deshalb Jessenin heute näher – weil er sich un­erschrocken und schonungslos offenbart? Auch »Die sterbenden Helden« geraten in Vergessenheit. In der Auswahl des Reclam-verlags jedenfalls ist die Ballade nicht mehr vertreten. Für Jessenin freilich war gerade dieses Gedicht wichtig!


Anmerkungen

Kapitel I:
Sergej Jessenin, Gesammelte Werke, Herausgeber Leonhard Kossuth, Berlin 1995, Bd. 3, Marienschlüssel S. 25.
Tolstoi liest Hebel. Siehe in: Johann Peter Hebel, Alemannische Gedichte mit hochdeutscher Übertragung. Reclam, 1969/2001, S. 202. // Liste der Zeit-Bibliothek bei Wikipedia. // Goethe-Rezension, im Internet: »Goethe Theoretische Schriften Alemannische Gedichte«.
Die 2. Stelle im »Marienschlüssel«: 2. Kap., S. 30. // Hebel »Die Vergänglichkeit«, im Internet z.B. bei: wikisource.org
https://de.wikisource.org/wiki/Die_Vergänglichkeit _(Hebel,_1834)

Kapitel II:
Uhland im Internet unter: »bibliotheca augustana Die sterbenden Helden«.
»die für uns zum Mythos geworden sind«: In »Rotes Neuland«, Moskau/Leningrad 1924, Nr. 1. = Kossuth, Bd. 3, S. 57. // Brief an Panfilow. »Du selbst hast früher gesagt: Und doch glaube ich, daß es nach dem Tod ein anderes Leben gibt. Ja, das glaube ich auch, aber was ist der Sinn des Lebens? Wozu leben wir?«, Kossuth, Bd. 3, S. 75. // Das Gedicht: übersetzt von Walter Fischer, Kossuth, Bd. 1, S. 167/168. // »Leben und Schaffen liegen noch vor mir«: Autobiografie vom 20. Juni 1924. Kossuth, Bd. 3, S. 201. // »Ich arbeite auf Hochtouren«, Brief an G. Benislawskaja, 15. Juli 1924, Leningrad.
https://de.wikisource.org/wiki/Die_sterbenden_Held en_(Uhland)

Kapitel III:
H. Heine: Schriften 1831-1837. Romantische Schule, 3. Buch, 5. Kap.: über Uhland.

Kapitel IV:
Kossuth, Bd. 1, S. 289/290. Übersetzung von Rainer Kirsch. / Im Internet: »Sonnenregen Sergej Jessenin« (dort: linke Spalte).
Jessenin: / Andere Übertragung im Internet: »Sonnenregen Sergej Jessenin« (dort: linke Spalte). http://www.gratis-webserver.de/mable/4%2Ehtml
Die russische Fassung: https://stihipoeta.ru/1663-chernyy-chelovek.html

Kapitel V:
An A. Marienhof, 9. Juli 1922, Oostende: »In Berlin habe ich natürlich allerhand Skandale und Tumulte verursacht. – Mein Zylinder und der von einem Berliner Schneider genähte Manteau haben alle rebellisch gemacht.« Kossuth, Bd. 3, S. 145. // Laut Grusinow sagte Jessenin eines Tages zu ihm: »Ich liebe Hebel sehr. Hebel hat auf mich einen großen Einfluss ausgeübt. Weißt du? Der deutsche Volksdichter.« Памяти Есенин = Erinnerung an Jessenin, Moskau 1926, S. 98.