Hermann Hesse und Othmar Schoeck
Von Karl-Heinz Barthelmes
Hier in Brunnen (Kanton Schwyz) und von Brunnen aus möchte ich Sie zu einer Gedankenreise, einer Wanderung durch eine besondere Freundschaft eines Musikers und eines Schriftstellers einladen. Beide liebten Wanderungen zu Fuß und tauschten sich ein Leben lang intensiv über Gott und die Welt, Kunst und Glauben an eine bessere Welt aus. Durch die Dokumentation ihrer enormen künstlerischen Begabungen sind wir noch heute in der Lage, aus ungezählten Büchern, Bildern, Briefen und Noten Anteil zu haben an ihrem Leben und Werk. Künstler leben von der Inspiration, sind meist sehr empfindsame und leicht kränkbare Persönlichkeiten, verteidigen ihre Ansichten auf ganz unterschiedliche Art und Weise, leben davon und leiden darunter, wenn ihre Werke zu wenig oder gar keine Anerkennung oder gar massive Ablehnung erfahren. Oft fühlen sie sich als missverstandene Einzelgänger, reagieren auf unerwarteten Erfolg mal überschwänglich, mal bescheiden oder gar abweisend. Trotz der außerordentlichen Schaffenskraft beider kam es immer wieder zu Schreibblockaden oder Krisen im persönlichen Bereich, ganz besonders aber auch bedingt durch die besonderen Umstände der beiden Weltkriege im Zeitalter der Extreme des 20. Jahrhunderts.Wenn zwei solch charismatische und geistbegabte Menschen nach dem ersten Kennenlernen auf ihrem Lebensweg zu Freunden werden, ist dies ein großes Geschenk, und so lässt sich sagen, dass es einen dunklen Grund der Freiheit gab, der sie gemeinsam «Stufen» des Wiedersehens und Abschiednehmens hat gehen lassen.
Für den quirligen Spross und vierten Sohn einer Brunner Familie mit großbürgerlichem Hintergrund bedeutete dies ein besonderes Abenteuer. Mutter Agathe, geborene Fassbind – eng verbunden mit dem noch heute ersten Hotelplatz Brunnens, dem «Waldstätter Hof» – sie war, wie Hermann Hesse es beschrieb, «die Frau mit dem Falkenprofil und den leidenschaftlichen Augen». Sie war oft in Sorge um Othmar, »ob er nicht gar zu leichtsinnig lebe« und strahlte sogleich, wenn der neun Jahre ältere Hesse an ihren Sohn glaubte und seine Begabungen unbedingt lobte. Vom Vater, dem Basler Maler Alfred Schoeck weiß Hermann Hesse von seinen Besuchen in Brunnen zu berichten, «ein Mann des Maßes und der Harmonie». Dankbar erinnert er sich, dass er in seiner Villa eine Kopie seiner süditalienischen Landschaften für seinen Besucher anfertigte. Außerdem sollten auch zwei Bilder des Musikers Othmar ihm lange Freude bereiten. Im sogenannten «kleinen Stübli» indessen saß man oft stundenlang in fürchterlichem Zigarrenqualm und stritt miteinander und schrie einander an in den heftigsten Diskussionen über Politik und Religion und über Kunst, es ging großartig wild zu, ängstlich schmiegte sich der Dachshund Waldi zu Ralphs Füßen, die schöne Katze mit dem Namen Lady saß unbekümmert… So wächst Othmar Schoeck auf und lernt schon früh viele Menschen kennen, besonders nach dem Anbau an die Villa des Hotels Eden, das in der Blütezeit viele internationale Gäste aufnahm. Der zweite Biograph des Musikers (neben Hans Corrodi und Chris Walton) Werner Vogel spricht vom ersten Musikunterricht Othmar Schoecks: »Im Alter von sieben oder acht Jahren bekam Schoeck den ersten Musikunterricht. Sein Klavierlehrer war der Musikdirektor Krieg aus dem Kollegium Schwyz. Meinrad Inglin hat ihn in seinem Roman »Werner Amberg« verewigt. Krieg bekam so etwas wie Platzangst und musste das Unterrichten aufgeben. An seine Stelle trat ein Fräulein (Marie) Angele aus Altdorf, die Tochter eines Urner Musikdirektors. Sie war ausgebildete Pianistin und erteilte die Klavierstunden einmal wöchentlich entweder im Waldstätterhof oder oben in der Villa Ruhheim. Zur Unterrichtsliteratur gehörten neben der Klavierschule »Lebert & Stark« auch die Etüden von Czerny und Clementi. Man musste die Finger wie Hämmerchen krümmen und ab und zu mit einem Geldstück auf dem Handrücken spielen. Aber Othmar übte gar nicht gern. Fräulein Angele tadelte ihn deshalb immer wieder und mahnte: »Du musst halt mehr üben, Othmar, sonst lernst du deiner Lebtage nie Klavierspielen!« Des Übens überdrüssig, erklärte er dann voller Überzeugung: »Wenn ich’s dann einmal so gut kann wie die Mama, dann höre ich aber sicher auf!« Schoeck lobte später seine Klavierlehrerin: bei ihr habe er doch eigentlich spielen gelernt, außerdem habe sie einen guten musikalischen Geschmack bewiesen. Und so entwickelte er mit der Zeit mehr und mehr seine Meisterschaft als Mann am Klavier bzw. Flügel.
Othmar Schoeck geht mit seinen Brüdern 1901 nach Zürich, zunächst auf die Industrie-, die heutige Oberrealschule. Es folgt das Studium an der Musikschule, heute Konservatorium und Musikhochschule. 1908 erhält er entscheidende Impulse am Leipziger Konservatorium bei Max Reger. Nach der Rückkehr in die Schweiz leitet er sodann acht Jahre lang den Männerchor Zürich-Aussersihl. Das Besondere im Blick auf Hermann Hesse ist, dass Schoeck bereits dessen Gedichte kannte, schätzte und vertonte, ehe sich beide begegnen.
Zu Schoecks Brüdern nur kurz so viel:
Walter (1885-1953) übernimmt das elterliche Hotel Eden in Brunnen, dessen Betrieb während des Zweiten Weltkriegs nur dank vieler deutscher Kriegsinternierter, laut Biograph Chris Walton, überlebt.
Paul (1882-1952) ist ausgebildeter Architekt, schreibt unter anderem ein Dialektdrama »Täll«, das 1920 am Schauspielhaus Zürich aufgeführt wird, aber erst durch Brunner Spielleute am Schweizer Nationalfeiertag 1939 im Rahmen einer Landesausstellung zur Geltung kommt. Er steht zeitlebens in engem brieflichem Kontakt zu seinem jüngsten Bruder Othmar. Sein Suizid in der Aare bei Muri hinterlässt bei allen einen tiefen Schmerz.
Ralph (1884-1969) wird Ingenieur, dient als Offizier in der Schweizer Armee und übernimmt später eine Professur am Technikum in Winterthur.
Bis heute jedenfalls streiten sich die Gelehrten um die Frage, wann sich genau Hermann Hesse und Othmar persönlich kennengelernt haben. Schoeck meinte später einmal: bei einem Konzert in Zürich 1906 – Hesse hingegen glaubt im März 1911 anlässlich der Uraufführung von Schoecks Chorwerk »Der Postillion«, eine Ballade aus der Feder von Nikolaus Lenau. Die Brunner wissen indessen, dass Schoeck die Musik zum »Japanesenspiel« 1907 verfasst hat. Will sagen, nichts Genaues weiß man von den Anfängen dieser Freundschaft nicht. Hesse sagte einmal, er bewahre sich eher Bilder, vergesse aber die Zeiten, das heißt die Daten und ihre Reihenfolge. Und über Schoecks Erinnerungsvermögen in solchen Dingen kommentiert der älteste Bruder Walter lapidar im Dialekt: »Weisch, der Othmar – einisch seit er das und de seit er wider dises!«
Im April 1911 jedenfalls berichtet Schoeck an seinen Bruder Paul »nachher nach der Matthäuspassion reise ich von Mailand aus mit Fritz Brun und Hermann Hesse nach Umbrien, für 14 Tage Perugia, Assisi, Siena etc. Ich bin jetzt schon ganz reisefiebrig! … Hesse ist übrigens ein Prachtkerl, an dem Du Deine helle Freude hättest. Er hat mir viel neue Gedichte abgeschrieben, die alle wundervoll sind. Ich habe heute eins davon komponiert«:
FRÜHLING
Wieder schreitet er den braunen Pfad
Von den stürmeklaren Bergen nieder,
Wieder quellen, wo der Schöne naht,
Liebe Blumen auf und Vogellieder.
Wieder auch verführt er meinen Sinn,
Dass in dieser zart erblühten Reine
Mir die Erde, deren Gast ich bin,
Eigentum und holde Heimat scheine.
Ist das nicht wunderschön?«
Hesse wiederum hat längst seine Liebe zu Italien wieder entdeckt, hatte er doch Jahre zuvor bereits ein Büchlein zu Franz von Assisi verfasst mit eben jenem bereits gesungenen Schöpferlob »Laudato si, o mi signore« wortgetreuer deutscher Übersetzung des Anfangs:
»Höchster, allmächtiger, gütiger Herr! / Dir gehören Preis, Ruhm, Ehre und jeglicher Segen. / Dir allein geziemen sie, Höchster, / Und kein Mensch ist wert, Dich zu nennen.«
Hesse bewundert und beschreibt die Natur und das einfache und glaubensstarke Leben dessen, der den Vögeln predigte, von Wölfen verschont blieb und noch auf dem Sterbebett seinen Schöpfer pries. Und so sind die drei Freunde nunmehr unterwegs, nicht nur nach Assisi, sondern auch in das eingangs gehörte und von Schoeck vertonte Gedicht »Ravenna«. In einem Brief nach Brunnen schreiben die drei Freunde auf ihrer Wanderung voller Freude und Begeisterung:
»Das ist eine Madonna. Dieses Kloster von Assisi ist das Schönste, was Du sehen kannst! Überhaupt Assisi! Nebenbei höre und fühle ich hier die Bestätigung des ganzen italienischen Liederbuches! Herzlichst Dein Othmar«
Fritz Brun ergänzt: »Dem Othmar fehlt vor lauter Chianti nur noch der Heiligenschein.«
Und Hesse schließt: »Wir brauchen aber den Chianti nötiger als den Heiligenschein.«
Nach Abschluss dieser außerordentlich vergnügten, heiteren und inspirierenden Reise bleibt Hesse noch 2-3 Tage in Brunnen, und Schoeck dirigiert sein Violinkonzert auf dem Tonkünstlerfest in Vevey. Wie bedeutsam diese Wanderung der Freunde ist, hält eine sowohl von Hermann Hesse wie auch von Fritz Brun geschilderte Episode fest. Ich zitiere sie in der Fassung des Dichters, wie sie neulich erst Silver Hesse, Hermann Hesses Urenkel, in einem Zürcher Café mit einem heiteren Lächeln quittiert hat:
»Auf einer andern Reise, damals war Fritz Brun mit dabei, sahen wir den jungen Schoeck noch einen anderen Apparat (als das Klavier) siegreich bezaubern. Das war in Orvieto. Wir hatten den Dom und den Signorelli gesehen, waren durch das Städtchen geschlendert, hatten den Gang in die Tiefe des Pozzo di San Patrizio gemacht und ruhten jetzt in einem Café an der Piazza aus. Dort stand eine merkwürdige Maschine, ein mechanisches Glücksspiel. Dieser Automat hatte kleine Schlitze, in welche man Zwanzigrappenstücke stecken konnte. Je nachdem man das Loch wählte, konnte man, falls man Glück hatte, für seinen Zwanziger zwei, oder fünf, oder zehn, ja sogar zwanzig oder vierzig solcher Geldstücke zurückgewinnen. Nur kamen natürlich die höheren Zahlen entsprechend selten heraus, und die anwesenden Stammgäste versicherten uns, dass schon mancher von ihnen die Fünf, auch die Zehn, und je und je sogar einer auch die Zwanzig gewonnen habe, obwohl natürlich auf Zwanzig zu spielen schon recht gewagt sei. Die Vierzig aber, meinten sie, sei zwar irgend einmal auch schon herausgekommen, aber ein vernünftiger Mensch setze natürlich auf diese Nummer nicht. Wir fassten allmählich Interesse, standen von unserem Vermouth auf und begannen den Apparat zu betrachten, und schließlich ließen wir uns zwei oder drei Franken wechseln und fingen an, der Maschine unsre Zwanziger in den Rachen zu stoßen, welche sie willig frass, und einmal sogar eine Zwei oder eine Fünf von sich gab. Da erklärte Schoeck beim Spielen müsse man aufs Ganze gehen, stellte auf die Vierzig ein, spendete sein Geldstück und drückte los. Die Maschine grollte heftig, und in die unten angebrachte muschelförmige Geldschale, und über sie hinaus ins Café, ergoss sich ein Wasserfall von Münzen, vierzig Stück. Der Wirt sprang auf, die Gäste machten Augen, Schoeck erntete mit beiden Händen den Münzenschwall in seine Taschen. Wir lachten sehr und gratulierten ihm, nahmen noch einen Vermouth, und ehe wir das Café verließen, steckte er noch einmal Spaßes halber eine Münze hinein, setzte auf Vierzig, und mit Getöse spie der Apparat nochmals vierzig Geldstücke aus. Wir kamen am nächsten Vormittag wieder, und ein drittes Mal tat Schoeck, was kein vernünftiger Mensch tut, und gewann die Vierzig nochmals. Jetzt war es Zeit abzureisen, die Stammgäste und die Nachbarschaft waren beunruhigt. Noch auf dem Weg zum Bahnhof fasste mich ein Mann auf der Straße höflich am Arm, deutete auf den vorausgehenden Schoeck und fragte flüsternd: »Sagen Sie ist es der dort, der junge Blonde, der dreimal die Vierzig gewonnen hat?«
Viel später einmal wird Schoeck einmal berichten: »Hesse war auf den Reisen oft zu Schabernack aufgelegt. So spielten wir einst nachts auf dem Stadtplatz von Ravenna mit einer Konservenbüchse Fußball. Ein andermal vollbrachten wir regelrechte Lausbubenstücklein. Wir läuteten beispielsweise an Haustüren und rannten davon. Wir legten uns auch in die Kornfelder hinein. Hesse war immer darauf bedacht, den Bürger abzustreifen, und kam in diesem Bestreben auf ausgefallene Ideen Dieses «Los vom Bürger» zieht sich wie ein roter Faden durch Hesses Leben und Werk… Ich habe diesen Drang nie in dem Maße verspürt und bin darum auch nie so ins Extreme gefallen wie Hesse.«
Lehrjahre sind keine Herrenjahre, sagt ein Sprichwort. Nun begleiten wir die auch recht unterschiedlichen Freunde von der geradlinigen Ausbildung des einen über die eigensinnige Autodidaktik und Selbstfindung und -bildung des anderen durch eine nächste Station, die ich unter das von Hesse in seiner Dokumentation »Mein Glaube« zitierte Bibelwort stellen möchte, das, wie er sagt, vor langer Zeit gesprochen und zu den wenigen Menschenworten gehört, die zeitlos und ewig neu sind: »Was hülfe es dir, wenn du die ganze Welt gewännest, und nähmest doch Schaden an deiner Seele.«
Die diesjährigen 25. Silser Hesse-Tage vom 12. – 15. Juni 2025 im Oberengadiner Waldhaus tragen den bezeichnenden Titel »Mit Hesse gegen den Strom«. Damit wird wohl ein entscheidender Unterschied der beiden Weggefährten deutlich: beide stammen sie aus wohlbehüteten und bildungsnahen Elternhäusern. Während Schoeck in seiner anbrechenden Meisterzeit nach und nach erfolgreich die Konzertsäle Europas zu bespielen sucht und Brunnen und Zürich als Ausgangsbasis beibehalten kann, wandert Hesse auf dem Weg zum Nobelpreisträger für Literatur durch seinen selbst so klar definierten »Eigensinn«, »Schriftsteller zu werden, oder sonst gar nichts«, auf der Seele dunkler Pfade von Calw über Tübingen und Gaienhofen, über Basel und Bern, über Baden und den Monte Verita bei Ascona endlich bis in sein geliebtes Montagnola.
Nach einer Zeit der Entkräftung arbeitet er zunächst 15 Monate in einer Mechanikerwerkstatt, kommt dann aber seinem Schriftstellertraum näher – auch angeregt durch die großartige Bibliothek seines Grossvaters – und schließt mit 18 seine Buchhändlerlehre in Tübingen erfolgreich ab, arbeitet in Basel sodann als Antiquar weiter und unternimmt von da aus auch Reisen an den geliebten Vierwaldstätter See. So erinnert er 1945 in seinem sogenannten Rigi Tagebuch: »…das ist Vitznau, da habe ich vor 45 Jahren am Tagebuch Lauschers geschrieben und die ersten Studien zum »Peter Camenzind« gemacht.« Eben dieser Peter Camenzind, in dem er eindrucksvoll über den Föhn und die Wolkenschifffahrt schreibt, war das erste Werk, das etwas finanzielle Sicherheit versprach, vom Schreiben auch leben zu können. Er folgt seinem »Eigensinn«, von dem er sagt, »wer eigensinnig ist, gehorcht einem anderen Gesetz, einem einzigen, unbedingt heiligen, dem Gesetz in sich selbst, dem ‚Sinn‘ des ‚Eigenen‘«. Ob dies auch ganz so für seine Odyssee durch seine drei Ehen gilt, ist hier nicht zu beurteilen. Alle Feinheiten auch hierzu sind in der bahnbrechenden editorischen Gesamtausgabe und der auf bald zehn Bände angewachsene Briefausgabe des im Offenbacher Editionsarchiv Hermann Hesse lebenden Hauptherausgebers Volker Michels nachzulesen.
Immerhin – ganz gegen den Willen des ersten Schwiegervaters, eines Basler Anwalts, der die Schriftstellerei Hesses als brotlose Kunst ansieht – heiratet er die Berufsfotografin Maria Bernouilli, er lebt mit ihr im abgelegenen Gaienhofen am Bodensee und hofft, sich nun ganz dem Schreiben widmen zu können. Sie schenkt ihm 1905, 1909 und 1911 die Söhne Bruno, Heiner und Martin. Die Schwermut seiner Frau und die nahenden Wirren des Ersten Weltkrieges nehmen ihm jedoch die Ruhe zum Arbeiten. Sie ziehen nach Bern um, und Hesse begibt sich in regelmäßige Therapiesitzungen bei Dr. Lang in Luzern, der ihm unter anderem rät, mit dem Malen zu beginnen. Als kriegsuntauglich eingestuft, setzt sich Hesse über das Berner Deutsche Konsulat unermüdlich für die Kriegsgefangenen ein und versorgt die Inhaftierten mit – wie könnte es anders sein? – Büchern und Zeitschriften. Immer wieder zwischen den Stühlen sitzend erntet er als Noch-Deutscher in der Schweiz sogleich Kritik als Vaterlandsverräter und andere Beschimpfungen. Und reagiert darauf, wie stets auf alle Geschehnisse, mit Schreiben. Es entstehen unter anderem »Demian« und sein Traumtagebuch. Im Oktober 1919 schreibt er bedrückt: »Der Haushalt existiert nicht mehr. Ich arbeite gerne, bin gerne allein, lebe gerne einfach, gebe gerne alles, was ich verdiene, für die Kinder her – hingegen bin ich in den täglichen und stündlichen praktischen Anforderungen nicht gewachsen. Für die Kinder selbst ist es ohne Zweifel das Beste, außerhalb der elterlichen Atmosphäre aufzuwachsen, für Kinder in unglücklichen Ehen ist weder Mutter noch Vater der Ort, an dem sie gedeihen." Mia nimmt den jüngsten Sohn Martin mit nach Ascona, der älteste Sohn Bruno kommt zu dem befreundeten Maler Cuno Amiet, und der zweite Sohn Heiner in das Landschulheim Frauenfeld. Hesse bekennt nach seinem Weggang ins Tessin – weiterschreibend und malend – dass er auch mit dem Wahn von seiner Berufung und Begabung zeitweise ins Zweifeln gerät.
»Damit das Mögliche entsteht, muss immer wieder das Unmögliche versucht werden.« Hesse hatte nicht das Glück, dass er auf elterlichem Grundstück seinen Schreibtisch hätte einrichten können. Im Gegenteil: In zäher Auseinandersetzung mit dem streng pietistisch-christlichen Elternhaus in Calw, und später auch in Basel, sagte er sich immer wieder von seinem angestammten Ort und seiner für ihn vorgesehenen Bestimmung los: Er will kein Missionar und auch kein Pfarrer sein, obwohl er von Hause aus alle Voraussetzungen dazu hat. Und so tritt er, wie er es nennt, seine »Höllenreise durch mich selbst« an, wie es in der gleichnamigen Ausstellung zu Hesses »Siddhartha« und »Steppenwolf« in der Zürcher Landesaustellung im Schweizerischen Landesmuseum 2002 hieß. Bereits als Kind wehrt er sich gegen die Erziehungsgrundsätze seiner Eltern: »Es war das pietistisch-christliche Prinzip, dass des Menschen Wille von Natur und Grund aus böse sei und dass dieser Wille also erst gebrochen werden müsse, ehe der Mensch in Gottes Liebe und in der christlichen Gemeinschaft das Heil erlangen könne.« Hermann Hesse gilt als schwer erziehbar, wird als Sechsjähriger bereits für einige Monate außer Haus gebracht und kommt dann in das Elitegymnasium für angehende Theologen nach Maulbronn. Er flieht in einer Nacht- und Nebelaktion, fliegt von der Schule und wird nach einem misslungenen Selbsttötungsversuch in eine Nervenheilanstalt für Epileptiker und Schwachsinnige eingeliefert. »Stetten ist mir die Hölle. Und ich bin der Einzige unter einigen Hunderten von entmenschlichten Irren, der dies fühlt.«
Allein, nach einem »Umweg« über den Monte Verita bei Locarno, zieht es ihn mehr und mehr ins Tessin. Er lernt in Montagnola die Sängerin Ruth Wenger kennen, schätzen und lieben – weiß aber darum, dass er die Zweistimmigkeit der Lebensmelodie zu leben und niederzuschreiben mit ihr nie wird vollbringen können. Im Werk »Der Kurgast«, einer humorigen Erzählung über seine Erlebnisse während einer ersten Kur im Verena Hof in Baden 1923, gibt der Flüchtling aus dem pietistisch-christlichen Haus eine neue Richtung vor, indem er den Blick in den Fernen Osten weitet, wo Lao-Tse bereits früh zu seiner Lektüre gehört: »Ich glaube nämlich an nichts in der Welt so tief, keine andere Vorstellung ist mir so heilig wie die der Einheit, die Vorstellung, dass das Ganze der Welt eine göttliche Einheit ist und das alles Leiden, alles Böse nur darin besteht, dass wir Einzelne uns nicht mehr als unlösbare Teile des Ganzen empfinden, dass das Ich sich zu wichtig nimmt. Viel Leid hatte ich in meinem Leben erlitten, viel Unrecht getan, viel Dummes und Bitteres mir eingebrockt, aber immer wieder war es mir gelungen, mich zu erlösen, mein Ich zu vergessen und hinzugeben, die Einheit zu fühlen, den Zwiespalt zwischen Innen und Außen, zwischen Ich und Welt als Illusion zu erkennen und mit geschlossenen Augen willig ich in die Einheit einzugehen…«
Unter dem Titel »Krisis« veröffentlicht Hesse die Themen des ständigen Ringens um einen Befreiungsschlag aus allen einengenden Banden der inneren Zerrissenheit: Der »Steppenwolf« verarbeitet tiefste Stimmungen und Depressionen mit dem Besuch der Basler und Zürcher Karnevalsbälle. Ein Aquarell, »Maskenball«, entsteht, und im Rausche der Begeisterung schreibt er in einem Brief an einen Freund: »Aber wenn die Fastnacht vorbei ist, werde ich mich umbringen, aus Kummer darüber, dass ich ein so überlebensgroßer Trottel war und mein ganzes Leben vergeudet habe. Ich war ein richtiger Foxtrottel, dass ich mich dreißig Jahre mit den Problemen der Menschheit abgemüht habe, ohne zu wissen, was ein Maskenball ist.«
Freilich gab es auch gegenseitige Vorbehalte der Freunde Schoeck und Hesse: Auf dem Weg zur Meisterschaft wollte Schoeck mal ein Opernlibretto von Hesse nicht umsetzen, ein anderes Mal kritisierte Hesse Schoecks Opern, etwa sagte er über »Venus«: »eine ganz zauberhaft schöne Musik, aber die eben dadurch, da sie der Verherrlichung der nur triebhaften Leidenschaften dient, eben jenen letzten Adel doch nicht hat und nicht haben kann.« Den Liederkomponisten Schoeck bewunderte Hesse aber wiederholt vorbehaltlos.
Hesse heiratet nach finanziell spärlichen Anfängen 1924 Ruth Wenger, diesmal auf Wunsch des zweiten Schwiegervaters – aber bereits drei Jahre später wird die Ehe auf ihren Wunsch hin wieder geschieden. Seine dritte Ehe mit der Wienerin Ninon Dolbin, geborene Ausländer, währt dann über vierzig Jahre. Seinen drei Ehefrauen hat Hermann Hesse jeweils in großer Achtsamkeit und Achtung ein Märchen gewidmet. Durch die Möglichkeit des großzügigen Mäzens H. C. Bodmer aus Zürich ist es ihnen vergönnt, ein Haus auf Lebenszeit nach ihren Vorstellungen zu bauen und zu bewohnen, die sogenannte Casa Hesse oder Casa Rossa. Dieses Zuhause mit einer großen Gartenanlage sollte dann nicht nur Lebensmittelpunkt der Eheleute, sondern auch Anlaufstelle für zahlreiche Gäste, Literaten und Ratsuchende werden: Thomas Mann, Alfred Andersch und Hugo Ball, um nur drei der bekanntesten Besucher zu nennen. Wie Thomas Mann wird auch Hesse – Ironie der Geschichte – genau ein Jahr nach einem von Deutschen verursachten Weltkrieg der Nobelpreis verliehen. In seiner Wahlheimat erhält Hermann Hesse die Ehrenbürgerschaft, obwohl er ein »Zucchino« bleibt, wie man dort bis heute die Menschen von der anderen Alpenseite nennt. Er ist den Alteingesessenen auf dem Collina d’Oro noch vertraut als »Schau, da kommt der Paciügon« – was im Tessiner Dialekt so viel bedeutet wie Kleckser oder Schmierfink, weil Hesse oft mit Hut und Staffelei Feld, Wald und Hügel durchstreift.
Bei der Wanderung durch die besondere Freundschaft von Othmar Schoeck und Hermann Hesse gilt es respice finem, das Ende bedenkend, zum Schluss zu kommen, den ich unter die Bibelworte stellen möchte »Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen auf dass wir klug werden« und das Johanneische »In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen«.
In aller Kürze also: Schoeck ist seit 1925 ebenfalls verheiratet. Die Sängerin Hilde, geborene Bartscher, schenkt ihm 1932 die Tochter Gisela, mit der sie später häufiger in Rigi Klösterli zu Gast ist. Der gemeinsame Freund und Deutschlehrer Hans Corrodi von der Goldküste berichtet oft von den enormen Belastungen einer Künstlerehe in Wollishofen an der Pfnüselküste des Zürchsees. Schoeck dirigiert und komponiert unentwegt weiter. Am 1. April 1943 kommt es zur Uraufführung von Schoecks Werk nach der Oper »Das Schloss Dürande« in der Staatsoper Berlin – ein Geschehnis, das Schoeck nicht nur eine vernichtende Kritik seitens des Reichsmarschalls Hermann Göring (»Bockmist«) beschert, sondern auch wegen des nationalsozialistisch gefärbten Librettos Hermann Burtes in der Nachkriegszeit noch viel Kritik einbringt. Mittlerweile macht eine »sogenannte Dekontaminierung« dieses Schlüsselwerk der Schweizer Musikgeschichte in überarbeiteten Aufführungen wieder zugänglich.
Über allen Vertonungen strahlt noch heute der große Zyklus Opus 44 »Zehn Lieder nach Gedichten von Hermann Hesse« (1929) – anspruchsvolle Kompositionen sowohl für die Instrumentalisten als auch für die Singstimmen. Ilona Durigo und Dietrich Fischer-Dieskau sind nur zwei besondere Interpreten. Das Gedicht »Im Nebel« bildet 1952 den Abschluss von Othmar Schoecks Hessevertonungen. Am 9. März 1944 erleidet Schoeck während eines Konzerts in Sankt Gallen einen Herzinfarkt, der ihn eine Zeitlang an weiterem Schaffen hindert. Hesse regt ihn zu neuer Arbeit an: Gedichte von Heinrich Leuthold, die Schoeck in einer Liederfolge vertont. Besonderer Erfolg bleibt seinem Musiktheater-Werk »Penthesilea«, nach dem Trauerspiel von Heinrich von Kleist, bis in unsre Tage beschieden.
Am 2. September 1956 – Ironie der Geschichte – erhält Schoeck 1956 das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland.
Obwohl Hermann Hesse neun Jahre älter ist als sein Freund, verstirbt Schoeck fünf Jahre vor ihm am 8. März 1957 in Zürich. In der Fraumünster Kirche nimmt eine große Trauergemeinde unter dem Wort des Gleichnisses von den anvertrauten Talenten Anteil. Hermann Hesse schreibt Hilde Schoeck nach Wollishofen zwei Tage darauf: »Liebe Frau Schoeck – Immer, wenn ich an Othmar dachte, habe ich innig gewünscht, es möchte nicht auch dieser Freund, einer der liebsten, vor mir davongehen. Nun ist es doch geschehen, und wir denken mit großer Teilnahme an Sie und Ihre Tochter. Und dabei drängen sich aus schönen, lang vergangenen Zeiten her die Bilder. Ich sehe den Freund so wieder, wie ich ihn zum ersten Mal sah, er war etwa zwanzigjährig, Freund Schlenker brachte ihn mir nach Gaienhofen mit, wo er dann öfter mein Gast war. Und ich sehe das Haus in Brunnen mit beiden Eltern, allen vier Brüdern, die Bilder und Sammlungen in des Vaters Atelier, unsre Gänge gegen Morschach hinauf, unsre Besuche bei der Großmutter Fassbind und im Waldstätter Hof, dann alle Zürcher Wohnungen Othmars von der Bergstraße an, unsre gemeinsamen Ausflüge und Italienreisen, die Konzerte von der ersten Aufführung des Lenau‘schen Postillon an. Wie gern hätte ich den Freund noch einmal gesehen, wie gern ihm noch einmal für alles gedankt, womit er mein Leben bereichert hat! Ich trauere mit Ihnen und freue mich des Trostes, dass seine Werke bleiben und mir immer wieder das Herz erwärmen werden. Mit inniger Teilnahme Ihr Hermann Hesse.«
In seinem Rückblick auf »Vierzig Jahre Montagnola« vermerkt Hesse zwei Jahre vor seinem Tod: »Heute … bin ich kein Mann in guten oder besten Jahren mehr, sondern einer von den gebrechlichen Gemeinde-Greisen, der nicht daran denkt, mit irgend etwas von vorn zu beginnen, der sein Grundstück kaum mehr verlässt und drunten auf dem Friedhof von San Abbondio einen hübschen kleinen Platz gekauft hat … und so hoffe ich, wenn ich auch kein Tessiner geworden bin, die Erde von S. Abbondio werde mich freundlich beherbergen, wie es Klingsors Palazzo und das rote Haus am Hügel so lange getan hat.«
Ich möchte schließen mit einer heiteren Geschichte und wenigen Gedanken zum Glauben Hermann Hesses. Martha Schüpbach aus dem Emmental erzählt in breitem Bärndüütsch von däm Jahr (1945) als „Zimmermeitschi bim Herr Hesse“. Sie stellt ihren Arbiitsplan vor, muss putze, we scho ke Dräck isch gsi. D Madam het ja jede Tag bbadet i ihrem schwarz plättlete Badzimmer. Bim Herr Hesse sy d Plättli wyss gsi u är het nid au Tag bbadet. Herr u Frou Hesse hii trennt gwohnt. I Herr Hesses Revier sy a der Wang d Büecherregal voll gsi vo Büecher. Wenn i pressiert ha bim Putze u mer d Madam nid isch derzue glüffe, han ig hurti föif Minute us eme Buech gläse, es Zedeli drygliit u am nächschte Tag wytergläse. Am Morge han ig am halbi sibni müesse aafa – aber i bi vil scho am föifi i der große Bibliothek ghocket u ha gläse…« Sie zeigt sich hocherfreut, dass Hesse meist auf Berndeutsch mit ihr redet und »D Madam es genie gsi für Sprache: Dütsch, Französisch, Italiänisch, Änglisch u Griechisch … aber zum Byspiu e chnopf aanääje het si nid chönne. Derfür het si der Herr Hesse verehrt und als höchersch Wäse betrachtet.« Dennoch gelingt es dem Zimmermädchen Martha, Ninon mit einem bärndütschen Buech »Heimisbach« vom Simon Gfeller in ihren Schweizer Dialekt einzuführen.»Das isch mängisch nid so liecht gsi, wius für viu Usdrück gar kes schriftdütsches Wort het ggä.« – So weit die heitere Anekdote.
Zum Schluss noch einige Aussagen über den weit gefassten und oft reflektierten Glauben Hermann Hesses. So schreibt Hesse etwa an seinen Augenarzt Graf von Wiser in Bad Eilsen: »Ich bin des Glaubens, dass wir nicht ins Nichts gehen, ebenso wie ich des Glaubens bin, dass unsere Arbeit und Sorge um das, was uns das Gute und Rechte schien, nicht vergebens war. Aber in welchen Formen das Ganze und Teile belebt und immer wieder festhält, darüber kann ich wohl zuweilen fantasieren, aber nicht eine dogmatisch festgelegte Meinung annehmen. Glauben ist Vertrauen, nicht wissen wollen.« – »Der Inder sagt Atman. Der Chinese sagt Tao. Der Christ sagt Gnade.«
Hesse versteht unter Frömmigkeit »nicht das Pflegen von feierlichen Gefühlen, sondern vor allem die Pietät, die Achtung des Einzelnen vor dem Ganzen, der Welt, vor der Natur und den Mitmenschen, das Gefühl des Einbezogenseins und Mitverantwortlichseins.« »Ein Lao-Tse soll uns nicht das Neue Testament ersetzen, aber er soll uns zeigen, dass Ähnliches auch unter anderem Himmel und früher schon gewachsen ist und das soll unseren Glauben an die Internationalität und Kulturfähigkeit stärken«. Und schließlich an anderer Stelle: «Mein Glaube: Der Glaube, den ich meine, ist nicht leicht in Worte zu bringen. Man könnte ihn etwa so ausdrücken: Ich glaube, dass trotz des offensichtlichen Unsinns das Leben dennoch einen Sinn hat, ich ergebe mich darein, diesen letzten Sinn mit dem Verstand nicht erfassen zu können, bin aber bereit, ihm zu dienen, auch wenn ich mich dabei opfern muss. Die Stimme dieses Sinnes höre ich mir in mir selbst, in den Augenblicken, wo ich wirklich und ganz lebendig und wach bin. Was in diesen Augenblicken das Leben von mir verlangt, will ich versuchen zu verwirklichen, auch wenn es gegen die üblichen Moden und Gesetze geht. Diesen Glauben kann man nicht befehlen und nicht zu ihm zwingen. Man kann ihn nur erleben.«
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