Montauk

Autor:Max Frisch
Genre:Roman


Wiedergelesen von Katrin Züger
Warum gerade Montauk? Im Regal stehen viele Bücher des Autors. Montauk deshalb, weil ich darin einen Zeitungsausschnitt fand, ein Beitrag über die neue Leiterin des Max-Frisch-Archivs, für die die Erzählung eine «besonders schöne Neuentdeckung» war. Wie kann sie nur, dachte ich. Als ich vor vielen Jahren mit der Lektüre begann, schaffte ich ein paar Seiten und legte das Buch dann zur Seite. Zu fragmentiert, zu hermetisch, zu viel Ich, zu viel männliches Gehabe – ein Verhältnis zu einer Frau, die man kaum kennt und von dem man von Anfang an weiss, dass es nicht weitergeht. Dagegen die Leiterin des Max-Frisch-Archivs: Sie sei angetan von der radikalen Ehrlichkeit, mit der der Autor von seinen Beziehungen und vom Ringen um die Liebe schreibe. Neben der Aufrichtigkeit, die auch in anderen Werken zutage trete, schätze sie ihn auch wegen seiner Zeitlosigkeit, wie er sich zu den Themen wie Leben und Tod, Ehe und Arbeit, Politik und Gesellschaft Fragen stelle, die uns alle im Innersten bewegen und wir uns heute noch genauso stellen wie zu seinen Lebzeiten. Ich wollte sehen, welchen Zugang ich heute zu dem Text finden würde.
Montauk, ein Dorf an der nördlichen (der Autor) beziehungsweise östlichen (Wikipedia) Spitze von Long Island im Suffolk County im Bundesstaat New York, hundertzehn Meilen von Manhattan entfernt, knapp viertausend Einwohnerinnen und Einwohner, mit einem Leuchtturm als Wahrzeichen. In der Nähe Amagansett (im Buch mit Doppel-n), gut tausend Einwohnerinnen und Einwohner. Indigene, genauer algonkinische Namen, von den Montauk oder Montaukett, einem Stamm der Metoac, einer von vierzehn Algonkin sprechenden Indianerstämmen, die zu Beginn des 17. Jahrhunderts den südöstlichen Teil von Long Island besiedelten. Ein allgemeines Rätsel bleibt: Die Eroberer haben die eingeborenen Völker unterjocht, gequält, gejagt, vertrieben, ausgerottet, hielten sie für minderwertig, unzivilisiert, unkultiviert, unterentwickelt, grobschlächtig, barbarisch – und haben sich dann doch ihre Namen zu eigen gemacht, für Seen, Flüsse, Berge, Täler, Städte, Dörfer: Manhattan, Tallahassee, Shenandoa, Mississippi, Tuscaloosa, Appalachians, Tennessee, Nebraska, Idaho, Denali, Matanuska, Talkeetna, Tanana, Matapédia … Warum nur, wenn sie sie doch so geringschätzten?
Noch zwei Indian-Nation-Reservate gibt es auf Long Island, daneben wohlhabende Leute, hölzerne weiße Villen ohne Zäune, mit Rasen und Blumen, Wohlstand als Natur, sehr gepflegt, sogar der Himmel macht mit, da und dort eine glänzende Limousine oder ein Rasensprenger gegen die grüne Langeweile. Teile des Films «Eternal Sunshine of the Spotless Mind» (deutscher Titel «Vergiss mein nicht!»), erschienen 2004, wurden hier gedreht. Menschen werden in Tiefschlaf versetzt und an ein Gerät angeschlossen, das die Erinnerungen im Gehirn lokalisiert und dann nach Belieben löscht. Wegen Problemen in der Beziehung mit Joel lässt sich Clementine dem neuartigen Verfahren unterziehen, alle Erinnerungen an Joel werden gelöscht. Als sie sich zufällig wieder begegnen, weiss sie nichts mehr von ihm. Joel lässt sich daraufhin der gleichen Behandlung unterziehen, alle Erinnerungen an Clementine werden gelöscht. Joel erlebt noch einmal die Höhen und Tiefen der Beziehung, will dann doch nicht alle Erinnerungen loswerden und versucht, mit Clementine an Orte der Erinnerung zu flüchten, um wenigstens eine davon vor dem Löschen zu bewahren. Passt doch, irgendwie, oder?
Der Autor, auf Promotionstour durch verschiedene Städte der USA, will das Wochenende erzählen, autobiografisch, ohne Personen und Ereignisse zu erfinden, ohne Botschaft, nicht ohne Rücksicht auf die Menschen, die er beim Namen nennt. Eigentlich sympathisch. Die Entdeckung erschreckt ihn: Er hat sich sein Leben verschwiegen, bediente die Öffentlichkeit mit Geschichten, entblößte sich bis zur Unkenntlichkeit. Lebte nicht mit der eigenen Geschichte, nur mit den Teilen, die er literarisierte. Ganze Bezirke fehlen: der Vater, der Bruder, die Schwester. Im vergangenen Jahr ist die Schwester gestorben. Er ist betroffen, so viel weiß er von ihr, doch nichts davon hat er geschrieben. Hat nicht einmal sich selbst beschrieben, hat sich verraten. Noch zu Beginn des Wochenendes stört es ihn, dass so viele Erinnerungen da sind. «What is your state of mind?» fragt Lynn. Er ist froh um ihre Gegenwart. Will keine Memoiren. Will den Augenblick. Es regnet. Die Landschaft ist öde. Er schaut trotzdem.
Lynn, eine Zufallsbekanntschaft. Es ist unklar, was eigentlich ihr Job ist. Verlagsmitarbeiterin? Er ist in New York für ein Interview mit einer erbärmlichen Zeitung. Sie sitzt da und schweigt, stört nicht, nimmt einmal das Telefon ab, weil sie gerade daneben sitzt. Hat Augen wie heller Schiefer unter Wasser, langes Haar, hagebuttenrot, bis zu den Hüften, das ihr immer wieder im Weg ist, beim Anziehen der Jacke, beim Kochen, das sie deshalb zu einem Rossschwanz knotet. Sie scheint etwas exaltiert, meditiert jeden Tag, zweimal zwanzig Minuten, vor dem Morgenessen und in ihrem Office-Sessel nach der Arbeit. Die letzte Frage des Interviewers: «Do you consider yourself a doomed man?» Die Frage bleibt ohne Antwort. Verständlich, warum sollte er. Lynn sitzt daneben und sagt nichts. Er hilft ihr beim Anziehen der weißlichen Zotteljacke. Sie kommen sich näher und beschließen, über das Wochenende wegzufahren. Nach Montauk. Am 11. Mai 1974.
Ein Hotel in den Dünen, Gurney’s Inn. Ein Aussichtspunkt (Overlook) wird in Aussicht gestellt. Um ihn zu erreichen, zwängen sie sich durch Büsche und Gestrüpp, ducken sich abwechselnd unter wirren Ästen. Irgendwo dahinter lauert der Atlantik. Der Overlook erweist sich als Flop. Dazwischen ereignen sich so spannende Dinge wie ein Fels mit Büschen, ein Fels ohne Büsche, ein Stück Himmel, ein plumper Leuchtturm, das Schnüren eines Schuhs, ein grasendes Pferd, ein fahrendes Auto in der Ferne, eine Coca-Cola-Dose im Gras. Ab und zu sagen sie etwas, «look at this», um sich zu vergewissern, dass sie noch da sind. Erinnert mich an einen Aufenthalt auf Madeira, wo wir durch dorniges Gestrüpp wandelten. Auf einem Schleichweg, unbeschildert, kaum begangen, auf der Karte immerhin als Wanderweg eingetragen, voller Dornen und Stacheln, die die Haut der Hände, selbst der Arme und Beine unter der dicken Kleidung (es war neblig und kalt) aufrissen. Es sah aus, als würde uns der Weg in die Irre führen. Dann tauchte aus dem nebligen Nichts ein hölzerner Steg auf, mit bequemen Stufen, der zu einem Miradouro (Aussichtspunkt, Overlook) führte, und kurz darauf erschien die rettende Straße, soeben noch hinter Nebelschwaden verborgen, als schwarzes Band, das sich zum Parkplatz auf schwindelnder Höhe hochwand. Von da an war es nur noch ein Katzensprung auf den Pico Ruivo, den höchsten Berg der Insel. Mit weitem Blick über die Landschaft.
Immer wieder Rückblenden, Erinnerungen an das frühere Leben Frauengeschichten, Freundschaft, die Schwierigkeit des Umgangs miteinander, Hunde, Architektur, Literatur, Langeweile, Alter und Tod. Neben Lynn gibt es mindestens drei wichtige Frauen: Gertrud, Ingeborg, Marianne, nicht immer ist klar, von welcher die Rede ist, dazu eine Tochter, Ursula, und Therese (Thesy), frühere Schulkameradin und erste Liebe, die über ihm im ersten Stock lebt, durch eine Geburt vollständig gelähmt, die er nicht besuchen mag, weiß nicht warum, am Ende tut er es trotzdem, notgedrungen. Und lange davor Käte, Jüdin aus Berlin, die erste Geliebte, der er anbot, sie zu heiraten, damit sie während der Nazizeit in der Schweiz leben konnte, was sie nicht wollte, weil sie merkte, dass er sie nicht liebte. Viel Raum erhält sein alter Freund W., über zwanzig Seiten, so viel wie sonst niemand. Muss eine ihm wichtige Person gewesen sein. Hat ihn kürzlich wieder getroffen, zufällig auf der Straße, W. schien ihn nicht (mehr) zu kennen, ging vorbei, er blieb stehen, ging ihm nicht nach. W. war intelligent, gewissenhaft, immer Klassenbester, mochte es aber nicht zeigen. Hatte reiche Eltern, was ihm eher unangenehm war. Liebte die Musik, Bach, Mozart, Bruckner, die Malerei, kannte sich aus mit Caspar David Friedrich, Corot, Picasso und afrikanischen Masken, machte ihn bekannt mit Nietzsche, Spengler, Schopenhauer. War ohne Geltungsdrang, im Unterschied zu ihm, der sich freute, wenn seine Schreibereien gedruckt wurden. Sie spielten zusammen Tennis, wanderten, gingen schwimmen, hörten Musik, philosophierten. W. machte es sich schwer, gab alles auf, was seinen hohen Ansprüchen nicht genügte das Cellospiel, das Medizinstudium, die Karriere im Geschäft des Vaters. Er ging oft zu W., W. meldete sich nie bei ihm. Er ließ sich von W. beschenken, W. wurde verlegen, wenn er Geschenke bekam. W. bezahlte ihm das Studium. Eine tragische Existenz. Es muss Freundschaft gewesen sein, bis sie ihm gleichgültig wurde.
Er sitzt im Flugzeug, denkt nach. Es ist nicht anzunehmen, dass man auf dieser weiten Erde mit so vielen Siedlungen und Städten irgendwo vermisst wird. Befindet man sich aber mit dieser Einsicht in einer dieser Siedlungen und Städte, macht sie traurig. Hat man schon Hunde gesehen, die, wenn sie sich treffen, über einen dritten Hund reden, weil sie sonst nichts miteinander anfangen können? Hunde. Ich mag Hunde, eigentlich, aber nicht die unterwürfigen Haushunde. Sähe sie lieber in Freiheit. Als Wölfe. Könnte es sein, dass ich dann für die Wolfsgegner Partei ergreifen würde, weil sie sich nicht an unsere Regeln halten, die Gegend durchstreifen und uns in Angst und Schrecken versetzen? Ich glaube nicht. Hunde spielen manchmal die Hauptrolle in Geschichten, etwa in Franz Kafkas «Forschungen eines Hundes». Ein Hund im fortgeschrittenen Alter blickt zurück, denkt über sich und seine Mithunde nach. Außer ihnen, den Hunden, gibt es viele Arten von Geschöpfen: arme, geringe, stumme, nur auf gewisse Schreie eingeschränkte Wesen. Die Hunde studieren sie, geben ihnen Namen, helfen ihnen, sie zu erziehen, zu veredeln und dergleichen. Dem Erzähler sind sie gleichgültig, er sieht über sie hinweg. Eines aber lässt sich nicht übersehen: wie wenig die Menschen, verglichen mit den Hunden, zusammenhalten, wie fremd, wie stumm und mit einer gewissen Feindseligkeit sie aneinander vorübergehen. Ganz anders die Hunde. Sie sind in den wunderbarsten Berufen beschäftigt. Zum Beispiel die Lufthunde. Bewegen sich meist hoch in der Luft fort, gehen keiner Arbeit nach, sondern ruhen. Wunderbar die schweigende Unsinnigkeit dieser Existenzen. Im Allgemeinen wird sie nicht begründet, sie schweben in der Luft, das ist es. Der Erzähler ist Forscher und kann nicht anders als fragen, warum denn, grundgütige Hundeschaft, warum nur schweben die Hunde?
Wäre es nicht schön, wenn Hunde fliegen könnten, denkt sich auch Snoopy, der hündische Begleiter von Charlie Brown von den Peanuts, ein Beagle, der sich selten artgerecht verhält und vorzugsweise auf dem Dach seiner Hundehütte philosophischen Gedanken nachhängt. Stell dir einen Sommerabend vor, einen Himmel voll bellender Hunde. Alle sehen es gerne, wenn eine Gänseschar am Vollmond vorüberzieht. Wäre es nicht schön, man sähe einen Bernhardiner am Vollmond vorüberziehen? Vermutlich nicht ...
Zurück zu Montauk. Der Erzähler besucht eine Giacometti-Ausstellung in dem unmöglichen Museum mit der Spiralrampe (nicht Spitalrampe). Ob er das Guggenheim-Museum meint? Er weiss, daß er langweilig ist. Beim Kochen reden sie kaum. Er stopft sich eine Pfeife und setzt sich ins (nicht aufs) Sofa. Fragt sich, warum Lynn nicht redet, dabei wäre es dringlich, jetzt irgendetwas zu reden. Beim Tomatenschneiden spricht er von den Seen in Kanada, die noch gefroren sind, den vielen Seen, die verstreut sind wie weiße Zettel oder zerfranste Fetzen von einem Blatt, das man aus der Schreibmaschine gerissen hat. Kanada. Daran erinnere ich mich gern, British Columbia, Neuschottland, Neufundland, Québec. Endlose Wald- und Seenlandschaften. Seen, die dem Paradies auf Erden nahekommen, reine Idylle, ohne Menschen, zuhause hätte man längst ein Tourismuszentrum drum herum gebaut. Er bekommt eine weitere Aufgabe, schätzt es, tätig sein zu können: eine Flasche Wein öffnen, Sauternes. Ich weiß wenig über Weine, über Traubensorten, trinke kaum Wein, aber ich mag die schönen Namen – Amarone, Tannat, Grenache, Kadarka, Tempranillo, Malvasia, Sangiovese, Negroamaro, Huxelrebe …
Die Langeweile zieht sich wie ein roter Faden (holländisch «een rode draad») durch das Buch. Oder interpretiere ich das hinein? An mehreren Stellen im Buch ist davon die Rede. Vielleicht nicht gerade ein roter Faden. Übrigens war der gern zitierte rote Faden der Ariadne gar nicht rot. Es war einfach ein Faden. Einen roten Faden gab es aber in den Tauen der britischen Marine, um sie als Eigentum der Royal Navy auszuweisen. Er ging dergestalt durch das Ganze hindurch, dass man ihn nicht herauswinden konnte, ohne alles aufzulösen. Dies ist bekannt seit Goethes Wahlverwandtschaften. Im Übrigen ist ein Faden eine Textilie aus mehreren miteinander verbundenen/verdrehten Fasern. Er ist lang, dünn und sehr biegsam. Er kann gewebt, gestrickt, gewirkt, getuftet oder anders weiterverarbeitet werden, um daraus ein Flächengebilde – Stoff, Kleidungsstück oder andere Textilien wie Teppiche – herzustellen.
Langeweile. Nichts weniger als ein gering zu achtendes Übel, das zuletzt wahre Verzweiflung auf die Gesichter der Menschen malt, sorgt dafür, dass Wesen, die einander so wenig lieben, einander doch so sehr suchen und so zur Quelle der Geselligkeit werden. Sagt Arthur Schopenhauer. Ist nicht auch der Ausflug nach Montauk irgendwie langweilig? Es ist kalt, menschenleer, immerhin regnet es hier nicht wie in der Stadt. Die Absteige, das Hotel in den Dünen, wirkt heruntergekommen. Sie gehen spazieren, am meilenlangen Strand (in der neuen Welt hat man sich noch nicht an die metrischen Maße gewöhnt), dessen Ende nicht zu sehen ist im milchigen Lila-Licht der Verdampfung. Trotz Wind ist es jetzt fast heiß. Nach dem obligaten Wasserstapfen mit aufgerollten Hosen und dem Wurf eines Holzes in den tosenden Atlantik (das dreimal zurückkehrt und zweimal wieder geworfen wird) liegen sie in zwei verlassenen Strandkörben, im Abstand von etwas mehr als einer Armlänge (viermalige Wiederholung). Ein langer, leichter Nachmittag. Ich würde mich zu Tode langweilen. Ich würde vielleicht am Strand joggen gehen. Doch er fühlt sich (angeblich) wohl. Lynn tut es, sie geht joggen (laufen). Lynn sagt: «We can’t make love, not tonight.» Das klingt besser als «miteinander schlafen». Schlafen ist ja gerade das Letzte, was man dabei tut. Dann tun sie es trotzdem.
Er möchte das Wochenende beschreiben, diese dünne Gegenwart, ohne etwas zu erfinden. Möchte wissen, was er wahrnimmt und denkt, wenn er nicht an mögliche Leser denkt. Warum schreibt er? Um Leser zu befriedigen, um Kritiker zu beliefern? Die Frage, ob man beim Schreiben an den Leser denke, kommt in jeder Universität. Das Geschriebene klingt tatsächlich autobiografisch, wahrhaftig. Ist das gut oder schlecht? Die Wahrhaftigkeit bezweifle ich. Dichtung und Wahrheit vermutlich, wie immer oder meistens bei Autobiografischem. Die Erinnerung trügt. Sie wird manchmal durch Erfundenes oder Gewünschtes überlagert, dann weiß man nicht mehr, was Realität und was Fiktion ist, und jede neue Erinnerung an ein bestimmtes Erlebnis überschreibt die frühere, mit mehr oder weniger geringfügig abweichenden Nuancen. Ich erinnere mich an eine Flugreise. Schaute aus dem Fester, mein Begleiter las in einer Zeitschrift. Ein Gewitter. Sah einen Blitz in den Flügel einschlagen. Nichts weiter geschah. Erzählte es meinem Begleiter. Später erzählte er herum, wie er das Gewitter erlebte, den Blitzeinschlag sah, wie es krachte und das Flugzeug schwankte …
Ich genieße (heute) die Beschreibungen des Kleinen, Alltäglichen, dessen, was meist unbeachtet und unbeobachtet vor sich geht, Dinge, Ereignisse des täglichen Lebens, wie die meisten Menschen es (auch) kennen. Bilde mir ein, mit dem Sprunghaften, Fragmentarischen umgehen zu können, denn so verhält es sich doch mit uns: Wenn wir denken, gelangen wir leicht vom Hundertsten ins Tausendste. Wir stehen auf, am Morgen, die ersten Gedanken regen sich, zum Beispiel über die Mühen des Aufstehens, gefolgt von Gedanken über kleinere und größere Wahrnehmungen auf dem Weg zur Arbeit, über die Kolleginnen und Kollegen, Erinnerungen an dieses und jenes, und am Ende des Tages lassen wir das Erlebte Revue passieren oder überlegen uns, wie wir den Abend verbringen wollen, was wir einkaufen müssen, ums dies oder das zu kochen, und es endet vielleicht mit dem Gedenken an eine kleinere oder größere Tat, einem Glas Wein und einem Buch über das Wesen der Zeit. Verblüffende und entwaffnende Ehrlichkeit. Sein Laster: male chauvinism. Das war es, was mich beim ersten Mal gestört hat. Sieht sich und seine Dinge. Andererseits ist die Selbstverwirklichung (was immer das ist) der Frau tatsächlich nicht Sache des Mannes, sondern ihre. Wobei ein bisschen Hilfe und Vitamine helfen können. Seine Mutter hatte vielleicht recht: Als er fünfundfünfzig war, meinte sie nicht ohne Strenge, er solle nicht immer über Frauen schreiben.
Die Unterhaltung ist schwierig, da er das Englische rudimentär beherrscht. Vieles muss ungesagt bleiben. Ohnehin sind beide nicht sehr gesprächig. Sie erzählt nicht viel, er auch nicht. Eine Sprache nicht vollständig beherrschen hat seine Vorteile. Man muss sich aufs Wesentliche, aufs Elementare beschränken. Samuel Beckett erkannte dies und schrieb Französisch. Vladimir und Estragon, jedes Wort eine Offenbarung. Vielleicht weil es zwischen Lynn und ihm nur die englische Sprache gibt, sodass er das eine oder andere, was er sonst aussprechen würde, aus Faulheit nicht ausspricht, fällt ihm in ihrer Gegenwart mancherlei ein, was ihm sonst nicht einfallen würde. Es ist ein Unterschied, ob man in einer Fremdsprache oder in der eigenen Sprache schweigt (seine Worte). Schweigend in der Fremdsprache verdrängt man weniger, das Gedächtnis wird durchlässiger.
Er ist Anfang sechzig, schon älter als sein Vater, als er starb, und denkt an den Tod. Er hat nie einen ernsthaften Versuch unternommen, seinem Leben ein Ende zu setzen, hat nur oft daran gedacht. Sah da und dort praktische Möglichkeiten – einen Balken, eine Bergstraße ohne Geländer. Kein Revolver, einerseits hatte er keinen, andererseits ist er ein besonnener Mensch. Lynn fragt, ob er eifersüchtig sei, und wenn ja, ob er einen Menschen («a person») umbringen könnte, und wenn ja, sie oder ihn, und wenn nein ... Ihm fällt nichts Neues zum Thema ein, es wäre keine neue Erfahrung, wenn er wieder in Eifersucht verfiele. Sie spielen Tischtennis, Pingpong, weil es einen Pingpongtisch gibt. Die Tätigkeit lenkt ab, man erhitzt sich. Zwischendurch kann man sogar den eigenen Gedanken nachhängen. Was soll man hier anderes tun. Lynn gewinnt. Spricht von einem «beautiful day». Amerikanischer Optimismus.
Der Abschied naht. Sie werden sich nie wiedersehen.
Ich habe Montauk gelesen, mehrmals, trotz allem, mich damit auseinandergesetzt. Ich mag die Episoden mit den Eichhörnchen (die Eichhörnchen im Central Park sind gar keine Eichhörnchen, sondern Baumratten) und den Delfinen (die Delfine haben mindestens die Intelligenz der Menschen, doch keine Arme und Hände, nur Flossen, haben deswegen die Welt nie erobert). Alles in allem habe ich mich weniger gelangweilt als erwartet, doch es bleibt dabei, das Buch wird wohl nie zu meinen Lieblingsbüchern gehören. Ein Buch halt, wie viele andere auch.