Über Traumpfade ins Exil
Zum 80. Todesjahr von Else Lasker-Schüler
von Peter Frömmig
Es ist einmal mehr angebracht, den Anlass wahrzunehmen, an diese Dichterin zu erinnern. Ihre Biographie ist eng verknüpft mit der schuldbeladenen deutschen Geschichte des vergangenen Jahrhunderts: sie war Jüdin. Und das nicht nur von Geburt an, sie erfuhr im Laufe ihres Lebens auch eine tiefe Verwurzelung im jüdischen Glauben. Doch ohne Dogmatismus, offen zur christlichen und islamischen Religion. Auch diese Facette ihres Daseins verwandelte sie, wie alle anderen, in Poesie – und das mit einer Doppelbegabung als Wort- und Bildkünstlerin.Vor allem in ihrer Lyrik, doch ebenso in der Prosa und in Bühnenstücken, findet sich ein Expressionismus der antibürgerlichen Existenzform und der freien Ausdruckskunst. Sie schlüpfte in viele Rollen und entzog sich mit Lust den festen Vorstellungen, besonders der Männerwelt. „Nichts geschieht wirklicher als in meinem Kopf“, sagte sie und meinte damit eine poetische Wirklichkeit. Else Lasker-Schüler war eine schillernde Figur, die den Expressionismus nicht nur mitbegründete und prägte, sondern auch verkörperte. Sie lebte sich aus nach ganz eigenen Gesetzen, sie lebte Poesie. Als Frau und Exzentrikerin nahm sie in der Domäne der Männer eine Sonderstellung ein, doch lenkte ihre faszinierende Erscheinung auch vom Lesen ihrer Bücher ab. Selbstinszenierung kann im Interesse der Öffentlichkeit leicht den Vorrang vor dem Werk bekommen.
Es kann nicht übersehen werden, dass ihr äußerlich farbiges und bewegtes Leben von Armut, Tragik und Verlusten überschattet war. 1932, auf der Höhe ihres literarischen Ruhms, erhielt sie den Kleist-Preis, ein Jahr später Berufsverbot. Das hieß: Sie durfte nichts mehr publizieren. Ohne Zögern kehrte sie Deutschland den Rücken, und das für immer. Das hieß in letzter Konsequenz: Emigration und Exil. Sie ging in die Schweiz, wo die Behörden sich nicht durchringen konnten, ihr Asyl zu gewähren. Auch hier wurde sie daran gehindert, sich mit ihrer Arbeit hervorzutun und wurde bespitzelt. Sie unternahm mehrere Reisen nach Palästina, bis ihr 1938 die Schweiz das Rückreisevisum verweigerte. Nach einem rastlosen Leben, aufgerieben zwischen den Rädern der Politik und durch die Zeitereignisse, starb sie 1945 in Jerusalem, im Heiligen Land ihrer Sehnsucht und dichterischen Phantasie. Eine fünfundsiebzigjährige Frau, verarmt und vereinsamt; am Ölberg wurde sie begraben. Vor nun genau achtzig Jahren. Da hatte der 2. Weltkrieg ein Ende gefunden, wurde Auschwitz befreit und das Menschheitsverbrechen der Nationalsozialisten in seinem ganzen Ausmaß deutlich. Bis heute sind es Daten und Ereignisse, die sich immer wieder aufdrängen, man wird sie nicht mehr los. Es bleibt ein frommer Wunsch, das alles sei aus und vorbei …
Ihr Nachruhm ist noch nicht verebbt. Else Lasker-Schüler ist und bleibt eine der bedeutendsten deutschsprachigen Lyrikerinnen und Schriftstellerinnen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sie ist längst zu einer Klassikerin der modernen Literatur geworden. Gedichte wie „Ein alter Tibetteppich“, „Mein blaues Klavier“ oder „Gebet“ sind so berühmt und bekannt, dass sie auch weiterhin in keiner der wesentlichen Anthologien fehlen dürfen. Schon Else Lasker-Schülers früher Förderer Karl Kraus, dem Sprache alles war, erkannte sie als „die stärkste, unwegsame lyrische Erscheinung des modernen Deutschlands“. Und Gottfried Benn, einer, der sich vor großen Worten zu hüten gelernt hatte, nannte sie nach ihrem Tod, sie ganz entschieden noch vor „die Droste“ stellend, „die größte Lyrikerin, die Deutschland je hatte“. Und nicht zu vergessen die Künstlerin: Im Strich ihrer Zeichnungen finden ihre Handschrift sowie ihre lyrischen Sprachbewegungen eine schöne Übereinstimmung; auch in ihren Briefwechseln mit Künstlern wie Franz Marc, den sie in der Postkartenserie „Botschaften an den Prinzen Jussuf“ zu seinen poetischsten Malereien inspirierte. Die illustrierten Künstlerbriefe und Zeichnungen von Else Lasker-Schüler sind Ausdruck einer heiteren Spontaneität und Mitteilungsfreude. Und sie sind doch nur ein schönes Beiwerk neben der Kraft ihrer Sprache.
Was für ein Mensch verbarg sich hinter der öffentlichen Erscheinung und den Versteckspielen von Else Lasker-Schüler? In einem Lebenslauf, den sie an Kurt Pinthus, den Herausgeber der maßgeblichen expressionistischen Anthologie „Menschheitsdämmerung“ schickte, beschrieb sie sich selbst so: „Ich bin in Theben (Ägypten) geboren, wenn ich auch in Elberfeld zur Welt kam – im Rheinland. Ich ging bis 11 Jahre zur Schule, wurde Robinson, lebte fünf Jahre im Morgenlande, und seitdem vegetiere ich.“ In ihren Rollen und Kostümen gab sie sich Phantasienamen, sie erfand sich eine Gegenwelt, in der sie sich leichtfüßig bewegte. Nicht fassbar zu sein, gab ihr den Schutz, den sie brauchte, um sich frei zu entfalten. („IchundIch“ nannte sie noch ihr letztes Drama.) Doch diese Gegenwelt war nicht einfach eine Scheinwelt. Das zeigte sich darin, dass sie reale Menschen, bestimmte Persönlichkeiten ihrer Zeit, wie in einem Vexierspiel auftreten ließ. Etwas, das sich durch ihr gesamtes Werk zieht. „Ein Liebesroman mit Bildern und wirklich lebenden Menschen“ lautet im Untertitel ihr vor Fabulierlust sprühendes Buch „Das Herz“. Darin kommt dieses Wechselspiel besonders zum Ausdruck.
Was Else Lasker-Schüler antrieb, war eine besondere poetische Begabung, eine überbordende Phantasie und eine geradezu kindliche Lust und Freude an der Verkleidung und Verwandlung. Wie es etwa im „Sommernachtstraum“ von William Shakespeare durchgespielt wird. Doch es ist anzunehmen, dass sich hinter ihren Maskeraden tiefere Beweggründe verbargen. Nicht ganz greifbar zu sein, kann vor Verletzungen bewahren. Gewiss hat es auch mit der damaligen Rolle der Frau zu tun, die eine gesellschaftliche Unterordnung verlangte. Ihre ersten Veröffentlichungen wurden von der „männlichen Kritik“ herablassend als „Frauenlyrik“ bezeichnet. Vielleicht erklärt das auch, dass sie bevorzugt in die Rolle des „Prinzen Jussuf“ schlüpfte. Mit ihrer selbst erschaffenen Lebensform entfernte sie sich weitest möglich von ihrer gutbürgerlichen Herkunft und allen Erwartungen.
Else Lasker-Schüler wurde am 11. Februar 1869 als sechstes und jüngstes Kind des Privatbankiers Aron Schüler und seiner Frau Jeanette geboren. Ihre Kindheit war so glücklich, dass sie ihr später nur noch als ein schmerzlicher Verlust erscheinen musste. Zur Zeit ihrer Kindheit und Jugend gab es im Tal der Wupper schon einen mehr oder weniger offenen Antisemitismus. Dann, ganz im Sinne ihrer Eltern, zunächst vielleicht auch selbst auf eine bürgerlich gesicherte Existenz ausgerichtet, heiratete sie den Arzt Bertold Lasker. 1899 wurde Sohn Paul geboren, es blieb ihr einziges Kind. Paul wurde später Maler und starb jung an Tuberkulose, ihn hatte sie über alles geliebt. Sein Tod reiht sich ein in eine Reihe von Verlusten sehr naher Menschen, die Else Lasker-Schüler im Laufe ihres Lebens zu erleiden hatte. Über die Ehe mit Bertold Lasker ist kaum etwas bekannt, es ging wohl nicht gut. Schon vor der Scheidung lebte das Ehepaar getrennt.
In Elberfeld hatte Else Lasker-Schüler bereits ein eigenes Atelier, begann sie gleichzeitig zu malen und zu schreiben. Sie suchte nach ihrem eigenen Ausdruck, nach einer Befreiung aus der engen Umgebung. Wie das „Moskau, Moskau!“ für Anton Tschechows „Drei Schwestern“, so musste der Name Berlin um die Jahrhundertwende für sie wie eine Fanfare der Verheißung geklungen haben. Aber es blieb nicht nur eine Sehnsucht, sie ging wirklich hin. Und wie schnell und gründlich sie mit dem Bürgertum brach, zeigt nur, dass es nicht unvorbereitet geschah. Indem sie rasch begann, sich in den Künstlerkreisen auszuleben, fand sie zu ihrer vollen Begabung und Verwirklichung. Mit vielen, die Rang und Namen hatten in der Welt der Literatur und der Kunst, wurde sie im Eiltempo bekannt. Und doch schlug ihr Herz stärker für die kleinen, unbekannten Poeten und andere Unangepasste, von denen sie manche förderte und auch finanziell unterstützte, solange es ihre Mittel noch hergaben. Hingegen wehrte sie sich eifersüchtig gegen jede weibliche Konkurrenz. Wie heftig sie in solchen Fällen werden konnte, bekam die Kabarettistin Emmy Ball-Hennings, die Frau des Dadaisten Hugo Ball, deutlich zu spüren.
Else Lasker Schüler war nicht nur eine prominente Stadtindianerin in der Berliner Bohème, sie wurde sogar zu ihrem Häuptling. Allerdings zeigen die Fotos aus dieser Zeit sie auch als äußerst aparte, elegant gekleidete Dame. Nachdem ihr erster Gedichtband erschienen war („Styx“), kam es 1903 zur Heirat mit Georg Levin, der sich auf ihren Vorschlag hin und ihr zuliebe fortan Herwarth Walden nannte. Unter diesem Namen wurde er berühmt als Herausgeber der Zeitschrift „Der Sturm“, einem wesentlichen Sprachrohr der Bewegung des Expressionismus. Die Namensfindungen von Persönlichkeiten, die Else Lasker-Schüler (so nannte sie sich als Autorin auch weiterhin) in ihre orientalisch gestimmten Phantasiewelten aufnahm, waren nicht von ungefähr, sondern in ihrer Art sehr charakterisierend. Karl Kraus, der Sprachkritiker und Herausgeber der Zeitschrift „Die Fackel“, wurde so einmal zum „Kardinal“, dann zum „Dalei Lama“, den Arzt und Dichter Gottfried Benn nannte sie „Giselheer, der Barbar“, und der Dichter Georg Trakl wurde zum „Ritter aus Gold“ erhoben. Im Briefroman „Das Herz“, einem Reigen wechselnder Liebschaften und Abenteuer, begegnet man ihnen und vielen anderen.
Die produktivsten Jahre Else Lasker-Schülers lagen in den ersten beiden Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts, ihre Arbeiten wurden in den wichtigsten Literaturzeitschriften und Verlagen in dichter Folge veröffentlicht. Neben Gedichtbänden wie „Der siebente Tag“ und „Hebräische Balladen“ waren es auch Romane und Erzählungen, darunter „Die Nächte von Tino Bagdad“ und „Der Prinz von Theben“. Dazu scharfsinnige Essays und die für sie typische Form der Briefbände. Doch nicht immer lief alles wie am Schnürchen: Gegen Verlegerunrecht, engagiert für Kollegen, wehrte sie sich vehement in dem Pamphlet „Ich räume auf!“ Im „Peter-Hille-Buch“ setzte sie ihrem Mentor, dem verehrten Dichter-Vagabunden, ein Denkmal. Dafür wurde sie von Katja Mann besonders gerühmt.
In den 1920er Jahren, bekanntlich eine sehr freizügige Dekade, auch als die Goldenen Zwanziger bezeichnet, war Else Lasker-Schüler alles andere als eine einsame Dichterin. Sie suchte die Öffentlichkeit, wo es sich bot, tat sich hervor mit einer verzweifelten Heiterkeit und zeigte sich resistent gegen Ablehnungen. In den Künstlerkreisen fühlte sie sich gut aufgehoben, die Gemeinschaft von Gleichgesinnten war ihr Lebenselixier. Viele ihrer Widmungsgedichte zeugen davon, auch die bevorzugte Briefform ihrer Erzählungen ist bezeichnend dafür. Sie brauchte das Gegenüber zur Inspiration und auch als Widerpart, schuf sich ein wechselndes Personal für ihre Rollenspiele. Sie war zudem eine andauernd sich neu Verliebende, keine ihrer Ehen und zeitweiligen Beziehungen konnten dieser Unberechenbarkeit standhalten. Die Ausschweifungen forderten am Ende ihren Tribut. Im „Sterbelied“, eines ihrer letzten, zu Lebzeiten noch veröffentlichten Gedichte, kommt es zum Ausdruck: „…alle beglückenden Farben / Seit meines Lebens Anbeginn / Aus meinem Leben entfliehn, / Die mich umwarben – / Starben…“ Ein bitteres Resümee nach einem reichen Leben.
Über ihre Traumpfade, die Else- Lasker-Schüler mit schier schlafwandlerischer Sicherheit beschritten hatte, legten sich die Schatten der Vergangenheit und der Gegenwart, der harten Realität. In Briefen an Vertraute offenbarte sie sich in ihrem „grenzenlosen Leid“. Doch in der Einsamkeit, die sie erleiden musste, fand sie noch einmal zurück zur Kraft ihrer Sprache. Von Liebe und Tod, als gehörte das eine zum andern, sprechen ihre stärksten Gedichte „Mein blaues Klavier“ heißt ihr letzter, 1943 erschienener Gedichtband. Enthalten ist darin das Gedicht gleichen Titels: „Ich habe zu Hause ein blaues Klavier / Und kenne doch keine Note. // Es steht im Dunkel der Kellertür, / Seitdem die Welt verrohte. // Es spielen Sternenhände vier / – Die Mondfrau sang im Boote – / Nun tanzen die Ratten im Geklirr. // Zerbrochen ist die Klaviatür… / Ich beweine die blaue Tote. // Ach liebe Engel öffnet mir / – Ich aß vom bittren Brote – / Mir lebend schon die Himmelstür – / Auch wider dem Verbote.“
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