Ein Ausstellungsbesuch als Versuch eines Porträts

Über Volker Michels



Karl-Heinz Barthelmes
"Damit das Mögliche entsteht, muß immer wieder das Unmögliche versucht werden. (Hermann Hesse) - Herzlich von Ihrem Volker Michels"
Mit österlicher Vorfreude nehme ich am Abend einer der gelungensten Vernissagen der letzten Jahre das mitgebrachte Buch Hermann Hesses "Gedenkblätter" aus dem Jahre 1937 meiner verstorbenen Großtante Elisabeth Balke, die einst dem angehenden Nobelpreisträger bei der Auswahl der richtigen Brillenstärke behilflich sein durfte, wieder in Empfang. Die Anreise mit der trefflichen SBB bei Föhnsturm und Schmuddelwetter erspart mir den PKW-Stau am Gotthard, und das Zugabteil ließ mir als Wahlschweizer vom Vierwaldstättersee ausreichend Zeit, um Hermann Hesses Erinnerungen an den aus Brunnen stammenden Komponisten und Dirigenten Othmar Schoeck in der Erstausgabe wieder zu lesen.
Mit dem Postbus ging es pünktlich von Lugano Richtung Collina d'Oro und von der Haltestelle Montagnola-Paese schnurstracks Richtung Museo im Torre neben der Casa Camuzzi. Yasmin Di Lascio hatte Rezeptionsdienst und zauberte auf Anfrage Hermann Hesses "Luftreisen", erwartungsgemäß herausgegeben von Volker Michels, aus dem Buchladenregal. Die 45, nein 73 Stufen des extravaganten Museums boten dann auf kleinstem Raum den größten Einblick in das Werk und Wirken Hermann Hesses und seines begnadeten Herausgebers, des Schwarzwälders und Wahlhessen Volker Michels aus Offenbach. Die klug und geschickt platzierten Videoinstallationen ließen mich sofort die vertraute Stimme des geschätzten Literaturfreundes vernehmen und erweckten den Eindruck, er sei bereits anwesend. Allein, Direktor Marcel Henry ließ, geschickt an allen Ecken und Enden der engen Räumlichkeiten platziert, zunächst einmal die Worte des Editor-in-chiefs über Lautsprecher erklingen – seine Stimme, die er zuvor in der ehemaligen Bäckerei im Elternhaus seiner geliebten Frau Ursula Michels-Wenz in Offenbach aufgezeichnet hatte. Die am 3. April 2012 viel zu früh verstorbene Frau war für Volker Michels die "Philosophin und Dichterin im Haus", deren Gedichte er demnächst noch zu veröffentlichen gedenkt.
Nachdem in den 1960er Jahren der einst von Winterthur aus gerettete Suhrkamp Verlag mit dem genialen Verleger Siegfried Unseld neben Volker Michels u.a. Hans Wollschläger und Fritz Senn als Langzeithieronymusse gewinnen konnte, wurde aus Platzgründen beschlossen, die Megasammlung von Hesse-Dokumenten jenseits der Frankfurter Stadtgrenze in den Privatgebäuden der ehemaligen Bäckerei unterzubringen, wo Gäste aus aller Welt Rat und Hilfe zum besseren Hesse-Verständnis suchen. Kurzum: Volker Michels war noch gar nicht da, aber in seinen souveränen Statements über Lautsprecher omnipräsent. Na und? Die Vernissage sollte ja erst um 16.30 Uhr beginnen und jeder hat von nun an noch ein ganzes Jahr lang Zeit, um sich auf die Socken zu machen für einen Besuch in Montagnola. Berauscht von der Detailfülle an Brillengestellen, der Schreibmaschine Smith Premier No. 4, den Sonnenhüten und Malutensilien, unzähligen Einzelexponaten, Unikaten aus Hesses Briefen, allen Bänden der noch im Entstehen begriffenen Gesamtausgabe, nie gesehenen Malereien, Erstdrucken sowie der akustisch-intimen Videoeinspielungen von Michels-Tönen und - Videos, war definitiv eine Pause fällig: Spaziergang "Auf den Spuren von Hermann Hesse". Mit Hilfe des pfiffigen Audioguide-Plans ging es also in Richtung Casa Rossa, Station 11. Unterwegs rumpelte eine Dame mit Pappwänden und Plakaten auf einem Handwagen über das Kopfsteinpflaster in Richtung Café Boccadore, wo im ersten Stock der Beginn der Vernissage angesagt war: Die freundliche Marina Cuomo vom Sekretariat schickte sich an, die Räumlichkeiten vorzubereiten. Hier kann man sich mit einer köstlichen Focaccia und/oder einem Latte Macchiato stärken, während man in entspannter Atmosphäre die Zeitung liest.
Auf dem Weg zur Casa Rossa blieb Zeit für die Lektüre des ausgelegten Textes 'Workshop talk con Volker Michels in occasione di questa mostra". Unterwegs aqua destillata della pompa aus dem Schweizerischen Wasserschloss für die Wanderung. Erst jetzt verständlich, warum Volker Michels von seiner einst größten Niederlage in Montagnola sprach, nämlich weder die Casa Camuzzi noch die Casa Rossa nach Hesses Tod für eine museale Nutzung retten zu können: Private Investoren aus Mailand und anderswo hätten die museumsreifen Gebäude im Handumdrehen privatisiert und umgebaut. Michels, der nach eigener Aussage weder die Kunst der Selbstbespiegelung noch die Kunst, sich feiern zu lassen, gelernt hat, empört sich noch in diesen Tagen über die Demütigungen und das Versagen derer, die es versäumt haben, ihrem Tessiner Ehrenbürger Hermann Hesse ein noch würdigeres Denkmal zu setzen. Umso mehr ist es angebracht, demjenigen Anerkennung zu zollen, dem es als "Katalysator" gelungen ist, den Menschen, Maler und Schriftsteller von Weltrang Hermann Hesse in seiner ganzen Fülle des Werkes zugänglich zu machen. Zwischen gesicherter Einfahrt und massivem Bewuchs ist das einst vom Zürcher Mäzen Bodmer verwirklichte Traumhaus Hesses kaum auszumachen, entspricht in der Farbe des Außenanstrichs nach dem Weiß dieser Tage wohl wieder dem ursprünglichen Tessiner rossa.
Nach einer kurzen Vorstellung und Begrüßung (ohne Musik) sprechen die Basler Hilfsassistentin und angehende Germanistin Céline Burget und Kurator Marcel Henry kurz über ihren Besuch bei Michels im Editionsarchiv. Mit Verve, sprachlicher Brillanz und spürbarer Begeisterung und Wertschätzung für den zu Ehrenden und sein Lebenswerk im Dienste Hermann Hesses gelingt es der exzellenten freien Journalistin Natascha Fioretti aus Lugano, dem zahlreich erschienenen italienisch- und deutschsprachigen Publikum einen eher scheuen, zugleich aber humorvollen und unfassbar produktiven Volker Michels vorzustellen, aus dessen Quellenwerkstatt ständig Neues, nicht nur zu Hermann Hesse, sprudelt. Wenn Michels aus dem literarischen Nähkästchen plaudert und Namen wie Thomas Mann, Martin Walser oder die Marotten eines Marcel Reich-Ranickis zur Sprache kommen, lauscht das Auditorium besonders erwartungsvoll dem geistreichem Humor Volker Michels und spart nicht an doppeltem Applaus.
Beim klassischen Schweizer Apéro à la Ticinese überkommt mich ein Schmunzeln, als er mir die neueste Publikation "Erinnerung an Hans" (Insel Verlag, Berlin 2024) mit einer feinen Widmung überreicht. In der mitgebrachten Erstausgabe Hermann Hesses "Gedenkblätter" meiner Großtante von 1937 steht dieser Text im Buch ein Kapitel vor Othmar Schoeck. Das neu aufgelegte Bändchen mit Nachwort passt gut zu Menschen, die einen geliebten Menschen verloren haben, wie einst Hermann seinen jüngeren Bruder Hans.
Nach einem kurzen Umtrunk, der Gelegenheit bot, sich auf allen Etagen umzusehen, freute man sich, das eine oder andere Gesicht wiederzusehen, darunter auch den Zürcher Silver Hesse mit Gattin. Manch einer mag sich wegen der Feiertage entschuldigt haben.
Nach dem literarischen Osterspaziergang auf der Collina d'Oro bot der Großeditor einem kleineren Kreis von Interessierten noch ein Schmankerl: einen sachlich-nüchternen Einblick in seine Arbeitsweise: Aufstehen gegen 7.30 Uhr, ins Bett gehen um 22.00 Uhr – dazwischen viel Arbeit ... und das über viele Jahrzehnte: sammeln, sichten, sortieren, begutachten, kommentieren, publizieren von 3000 Buchbesprechungen, 24.000 von insgesamt mehr als 44.000 Antwortschreiben, mehr als 1000 Aquarellen, einer zwanzigbändigen Gesamtausgabe, umfangreicher Themeneditionen und Sonderausgaben bei einer weltweiten Gesamtauflage von mindestens einhundertfünfzig Millionen Exemplaren in mehr als 80 Sprachen neben ungezählten Vorträgen und Ausstellungen. Er müsse nach all den Weihrauchwolken um seine Person erst mal Luftschnappen, bemerkte Volker Michels am ersten Tag der neuen Jahresausstellung. Und so möge das Werk Hermann Hesses, vorbildlich präsentiert durch seinen kongenialen Herausgeber, weiter in die Welt hineinstrahlen, denn: Wer wüsste mehr über Hermann Hesse als Volker Michels?