Beileibe und zumute

Autor:Ursula Krechel
Erscheinungsjahr:2021
Genre:Gedichtband
Verlag:Verlag Jung und Jung


Rezensiert von Markus Manfred Jung
Schon der Titel des Gedichtbandes regt zum Nachdenken an, erzeugt Spannung: Was beileibe erwartet einen, was muten die Texte einem zu?

Leute kommen
Leute gehen
Leute heben sich
auf die Zehen
Leute schweben
man liest
von einem Erdbeben.

Das Gedicht auf der Cover-Rückseite entwirft ein Bild, das Gelassenheit und Freude ausströmt, was in der Pointe zwar nicht negiert wird, aber doch bezweifelt, in indirekter Form. Man kann sich fragen, löst das Erdbeben dieses Schweben aus oder ist es Folge davon? Hat das Beben überhaupt stattgefunden? „Man liest“ davon. Wie hängt die Elevation der Leute mit dem Beben zusammen?
Ursula Krechels Gedichte zeigen beileibe nicht Allwissen vor, sie behaupten nicht und sie raunen nicht. Sie weisen eher fragendes Streifen vor, setzen ungewöhnliche Gedankenverbindungen, öffnen sich Assoziationen, durchqueren und durchkreuzen Denkmuster, spannen einen Raum auf, in dem der Leser sich mit eigenen Gedanken bewegen darf, und das bei einem Gefühl von Aufgehobensein.
Die Texte bauen wortschatzreich auf dem Referenzraum lyrischer Tradition auf, bewegen sich zwischen den Polen Sprache und Sprachwissenschaft auf der einen und Lebenserfahrung auf der anderen Seite. Das Spiel mit der Sprache ist nie billiges Wortspiel, verzichtet auf Zweideutiges. Sein Witz geht in die Tiefe, ist intelligenter Humor mit selbstreflexiver Distanz. Bedeutungsebenen sind wie selbstverständlich ineinander verwoben, gleich gültig. Im Gedicht "Noch Fragen?" wird en passant eine Liebesgeschichte erzählt und gleichzeitig über Sprache, ihren Zerfall und ihre kommunikative Kraft räsoniert und dann noch durch den Zusatztext "Referenz" von Max Bill witzig kommentiert. Selten spenden Gedichte so viel vergnügliches Nachdenken und nachdenkliches Vergnügen.