Anstelle eines Nekrologs

In memoriam Hermann Kinder



Von E. Y. Meyer
Dear Companions in Space and Time!

Auch Schriftsteller werden krank und sterben. Die einen früher. Die anderen später. Denn die Menschen scheinen das so an sich zu haben.
So wie die anderen Tiere auf dieser Welt auch. Und so wie überhaupt alles Organische, das auf diesem Planeten eine Lebensgrundlage gefunden hat.
Nur Quallen, gewisse Seegurkenarten und Pilze scheinen potenziell unsterblich zu sein.
Bei den Bakterien ist sich die Wissenschaft inzwischen wieder nicht mehr sicher. Ob sie unsterblich sind oder nicht.
Und bei den Viren wissen die Wissenschaftler nicht, ob sie diese überhaupt als Lebewesen bezeichnen können, sollen oder dürfen.
Weil es sich bei ihnen nämlich einerseits zwar um organische Strukturen handle, deren Nukleinsäuren das „Programm“ zu ihrer Vermehrung und Ausbreitung enthielten, die andererseits aber selbst über keinen eigenen Stoffwechsel verfügten.
So dass die Viren für eine eigenständige Replikation auf den Stoffwechsel einer Wirtszelle angewiesen seien.
Dass die Viren dann aber, wenn es ihnen gelungen sei, Zugang zu einem solchen Stoffwechsel zu bekommen, die Fähigkeit, ihre Replikation zu steuern, und die Fähigkeit zur Evolution, die sie allgemein hätten, eben trotzdem zur Entfaltung bringen könnten.
So dass man diese „organischen Strukturen“, wenn auch nicht als Lebewesen, so anscheinend doch zumindest als „dem Leben nahestehend“ würde betrachten können.
Was wiederum zeigt, wie schwierig es für uns Menschen ist, die Grenze zwischen Lebewesen und Nicht-Lebewesen zu bestimmen.
Von den Problemen, die sich ergeben, wenn wir Menschen auch noch darüber zu entscheiden beginnen wollten, welche Lebewesen denn ausser uns selbst eigentlich überhaupt lebenswert sind und welche nicht, einmal abgesehen.
Denn lebenswert wären für uns dann wohl nur diejenigen Lebewesen, die zur gleichen Zeit wie wir neben uns und mit uns zusammen auf diesem Planeten leben, ohne dass sie uns Schaden zufügen.
Während alle anderen Lebewesen, von denen wir annehmen, dass sie für unser eigenes Überleben schädlich sind, als nicht lebenswert angesehen werden könnten.
Und sogar unter uns selbst, unter uns Menschen, könnte es in der Folge dann zu Situationen kommen, in denen wir versucht wären, andere Menschen, die wir als schädlich für unser eigenes Leben ansehen, als nicht lebenswert einzustufen.
Aus Animositäten heraus können sich immer stärkere zwischenmenschliche und gesamtgesellschaftliche Spannungen aufbauen, zu deren Entladung, wenn sie zu gross geworden sind und wir keine Möglichkeit mehr sehen, sie auf eine andere Weise wieder aufzulösen, uns zuletzt nur noch die Palette vom Einzelmord bis hin zum Massenmord zur Verfügung steht.
Wobei in unterschiedlichen Spannungsphasen unterschiedliche Abstufungen möglich sind.
So dass man eine konkrete historische Ausformung dieses Prozesses zum Beispiel in einer einst von weissen europäischen Kolonialisten mehrheitlich geteilten Überzeugung sehen könnte, dass in der von ihnen für sich entdeckten „neuen Welt“ nur tote Indianer gute Indianer seien.
So wie für gewisse Menschen auch Schriftsteller oft erst dann gute Schriftsteller sind, wenn sie tot sind.
Wobei neuerdings, wie es scheint, zudem auch noch ihre Bücher tot sein müssen. Wieder einmal. Einmal mehr.

* * *
Den Schriftsteller Hermann Kinder hatte ich, wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, in Fleisch und Blut nur ein einziges Mal getroffen.
Anlässlich eines Schriftsteller-Treffens in Konstanz oder sonst irgendwo in der Bodensee-Gegend. Als wir junge Männer waren. Ende der 1970er-Jahre.
Aber ich erinnere mich gut an ihn. Denn wir hatten uns sofort verstanden und eine ähnliche Weltsicht geteilt.
Er, der Deutsche, hatte gerade einen Roman im Diogenes-Verlag in Zürich veröffentlicht. Und ich, der Schweizer, einen im Suhrkamp Verlag in Frankfurt am Main. Beide im gleichen Jahr. 1977.
Kinders Roman hiess "Der Schleiftrog" und meiner "Die Rückfahrt". Kinder war 33 Jahre alt, ich 31.
Und der dritte im Bunde, der ebenfalls bei dem Treffen dabei gewesen war und das „Trio Infernale“ sozusagen komplett gemacht hatte, der älteste von uns, der ein Jahr zuvor, 1976, im Zürcher Artemis Verlag den Roman "Schilten" veröffentlicht hatte, Hermann Burger, war 34 Jahre alt.
Alle drei hatten wir mit diesen Büchern, im ganzen deutschsprachigen Raum, einen beachtlichen Erfolg feiern können.
Jedes unserer Bücher war auf seine Weise, in einem umfassenden Sinn gesehen, ein Bildungsroman gewesen.
Oder zumindest ein Entwicklungsroman.
Es war in ihnen um den Lebensweg dreier junger Männer gegangen.
Zwei der Bücher waren Romane, in denen die Entwicklung auf das Leben zu verlief. Deren Grundtendenz somit biophil war.
Der dritte Roman hingegen war einer, in dem die Entwicklung vom Leben weg verlief. Dessen Grundtendenz also nekrophil war.
Obwohl wir alle drei, Burger, Kinder und ich, aus sozial verschiedenen familiären Verhältnissen stammten und jeder die Zeit in den drei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg auf seine Weise erlebt hatte, war es jedem von uns darüber hinaus aber gleichzeitig immer auch um die ersten und um die letzten Dinge gegangen. Um die Dinge jenseits der historischen Zeit.
Um die Prota und die Eschata, wie die Theologen sie nennen.
Die Dinge, die unsere Existenz letztlich bestimmen.
Das Bleibende, das Gültige, das Ewige und das Ewig-Menschliche.
Hermann Kinder, der, was ich damals nicht wusste, aus einer Akademiker-Familie stammte, Sohn eines lutherischen Theologie-Professors, der in Franken und im westfälischen Münster tätig gewesen war, hatte es besonders amüsiert, dass ich im Roman "Die Rückfahrt" den Protagonisten, einen jungen Lehrer, der im bernischen Emmental unterrichtete, in seinem alten Citroën Onze Légère Traction ins deutsche Lörrach hatte fahren lassen, um dort in einem Hotel namens Storchen eine Porno-Sex-Bar zu besuchen.
Mit Hermann Burger, der aus einer gutbürgerlichen Familie im Aargau stammte, Vater Versicherungsinspektor, Mutter Hauswirtschaftslehrerin, und der über "Die Rückfahrt" in einer begeisterten Besprechung geschrieben hatte, dass sie eines der wenigen Bücher der Gegenwartsliteratur sei, die man zwei- und dreimal werde lesen wollen, hatte die Kommunikation, wenn sie Persönliches betraf, hingegen bereits damals schwierig zu werden begonnen, da er an zwanglosen sozialen Interaktionen und Beziehungen immer weniger interessiert zu sein schien und hauptsächlich nur noch über sich und über sein akkumuliertes Wissen sprechen wollte.
Ich selbst stammte aus einer Arbeiterfamilie. Der Vater gelernter Kesselschmied, die Mutter Dienstmädchen und Köchin. Er Schweizer, sie Deutsche. Aber beide unmittelbar an der Grenze zwischen ihren Ländern lebend, die in diesem Fall vom Rhein gebildet wurde, kurz bevor er die Stadt Basel durchquerte.
Der Vater im schweizerischen Pratteln und die Mutter im deutschen Wyhlen, zwei einander spiegelbildlich gegenüberliegende einstige Bauerndörfer, in denen sich bereits Industrie angesiedelt hatte, deren Dorfcharakter aber noch weitgehend erhalten geblieben war.
Wie die beiden sich kennenlernten und wie sie zusammenkamen, könnte man als ein bäuerliches oder proletarisches Gegenstück oder eine Art Anti-Feudalismus-Geschichte zu der Geschichte ansehen, die in dem auf alte Schwimmersagen in der Antike zurückgehenden Volkslied von den zwei Königskindern erzählt wird, die nicht zusammenkommen konnten, weil das Wasser zwischen ihnen viel zu tief war.
Denn bereits im Sommer 1945, als der Krieg zu Ende war, die Grenze aber noch nicht wieder geöffnet, durchschwamm mein Vater den Rhein, ohne dabei zu ertrinken, und als es Winter wurde, kaufte er ein Faltboot, um mit diesem meine Mutter in die Schweiz hinüberzuschmuggeln.
Aber trotzdem endete natürlich auch diese Geschichte tragisch. Wenn auch erst viele Jahre später.
Solange noch Zeit ist, will ich hier jetzt aber auch eingestehen, dass ich zum Zeitpunkt des Bodensee-Treffens weder den "Schleiftrog" von Hermann Kinder noch "Schilten" von Hermann Burger gelesen hatte, und dass ich, auch das gestehe ich, ohne deswe-gen, wie ich hoffe, arrogant zu klingen, auch danach keines der weiteren Bücher gelesen habe, die diese beiden Schriftstellerkollegen in der Folge noch schrieben.
Obwohl ich sie beide, bei den kurzen Begegnungen, die ich mit ihnen hatte, als Menschen, von ihrer Wesensart und ihrem Charakter her, jeden in seiner Weise speziell und anregend gefunden hatte.

* * *

Nach dem Bodensee-Treffen sind die beiden Hermanns und ich unsere Wege weitergegangen.
Jeder in seiner eigenen, sich weiterentwickelnden Welt. Mit den neu hinzukommenden Anteilen all der anderen Welten, mit denen wir auf diesem Weg in Berührung kamen.
Und alle haben wir, aus den Erfahrungen heraus, die wir dabei sammelten, weiter unsere Bücher geschrieben.
Hermann Kinder hatte seine Laufbahn, wie ich hörte, an der Universität Konstanz fortgesetzt, die 1966 als interdisziplinäre Reformuniversität gegründet worden war, am Rande jenes grossen literarturgeschichtlichen Raums, für den man 1977/78 die „Schwä-bischen Dichterstrasse“ einrichtet hatte, aus der dann, laut Wikipedia, das „Literaturland Baden-Württemberg“ hervorgegangen ist: „Europas reichste literarische Landschaft mit mehr als 90 literarischen Dauerausstellungen, die vom Deutschen Literaturarchiv Marbach finanziell und konzeptionell unterstützt werden“.
Süddeutschland. Genauer gesagt, das von den alemannischen Dialekten geprägte Schwabenland, dessen Gebiet vom Schwarzwald im Westen bis zum Lech im Osten und vom Bodensee im Süden bis zum südlichen Teil der Region Heilbronn-Franken reicht.
Ein Geistesraum, in dem nicht nur die toten, sondern auch die meisten lebenden, die zeitgenössischen Dichter, Schriftsteller und Denker einen hohen Stellenwert haben und in den gebildeten Kreisen, bei den Menschen, die heute noch literarische Werke le-sen, und in den Eliten, bei den Akademikern, aber ebenso bei Grossindustriellen und Politikern und insbesondere deren Gattinnen ein grosses Ansehen geniessen.
Literatur, Philosophie und Theologie, vor allem die katholische, scheinen hier einen geistigen Komplex zu bilden, ein kulturelles Ganzes, das von der Industrie und der Politik in finanzieller Hinsicht grosszügig unterstützt wird.
Mir, als jungem Schweizer und Neuling in den bundesdeutschen Gegebenheiten, war dieses kulturelle schwäbische Selbstbewusstsein zum ersten Mal allerdings erst so richtig auferschienen, als mir mein Verleger, der aus Ulm stammende Siegfried Unseld lachend und halb ironisch, aber doch voller Stolz den berühmten Vierzeiler von Eduard Paulus zitierte, den ich damals noch nicht kannte:
"Der Schelling und der Hegel,
der Schiller und der Hauff,
das ist bei uns die Regel,
das fällt hier gar nicht auf."
Wobei man den Schelling und den Schiller, wie er meinte, natürlich auch durch den Uhland, den Mörike oder den Hölderlin ersetzen könne, während das, des Reimes wegen, beim Hegel und beim Hauff halt nicht gehe.
Inzwischen, nachdem die Wirtschaftswunderzeit in Deutschland, in der Siegfried Unseld den Suhrkamp Verlag gross gemacht hatte, längst vorbei ist, gibt es nun aber auch in diesem Kulturraum einige zeitgenössische Schriftsteller, die sich durch die land-schaftlichen Schönheiten des Schwabenlandes, die es immer noch gibt oder die, wie man wohl besser sagen würde, noch übriggeblieben sind, hindurchbewegen und die bedauern und betrauern, wie die natürliche Grundlagen dieses Raums, den sie, ohne zu zögern und zu Recht, wieder „Heimat“ zu nennen wagen, trotz der Geistesgrössen, die er hervorgebracht hat, immer mehr und immer schneller vor die Hunde gehen.
In der Jägersprache sagt man das, wenn krankes, schwaches Wild leicht ein Opfer der Jagdmeute wird.
Und es sind durchaus auch heute lebende Grossschriftsteller, die keine Scheu haben, sich dabei als „Schmerzensmänner“ zu stilisieren.
Weshalb man zum Beispiel für grosse schwarze Mercedes-Limousinen, die durch diese Landschaften fahren, nun auch das Wort Schmerzedes zu gebrauchen beginnen könnte.

* * *

Ein Grossschriftsteller ist Hermann Kinder nie geworden. Und er hatte das vermutlich auch nie werden wollen.
Ganz im Gegensatz zu Hermann Burger, für den das Erlangen dieses Status während der nächsten zehn Jahre seines Lebens ein immer stärker herbeigesehntes Ziel zu werden schien, das er mit allen Mitteln, die ihm zur Verfügung standen, anzustreben ver-suchte, wobei manchmal sogar der Eindruck entstehen konnte, dass er ganz bewusst die Posen eines Thomas Mann nachahmen würde.
Er liess sich als Raucher von dicken Zigarren porträtieren und in exzentrischer grossbürgerlicher Kleidung, die fast einer Kostümierung gleichkamen, und er pflegte einen immer virtuoseren, seiner sprachlichen Begabung entsprechenden Schreibstil, der auch jemandem, der wenig empfänglich für diese Art von Literatur war, eine Bewunderung abringen konnte.
Nach dem Erfolg von "Schilten" hatte er die Aufmerksamkeit des damals in Deutschland als das Mass aller Dinge geltenden Grosskritikers Marcel Reich-Ranicki auf sich gezogen, der für ihn nun zum grossen Förderer wurde, während Hermann Kinder sich, wie ich im Internet lese, anscheinend als ein Opfer von Marcel Reich-Ranicki sah, der ihn schlicht und einfach aus der öffentlichen Wahrnehmung als Schriftsteller habe verbannen wollen.
Hermann Burgers nächstes Buch erschien denn auch bereits in einem deutschen Grossverlag, nicht dem Suhrkamp Verlag zwar, der damals als der führende Verlag für deutsche Literatur galt, sodass man sogar von der „Suhrkamp Kultur“ sprach, sondern in dem älteren, traditionsreicheren Grossverlag S. Fischer, aus dem der Suhrkamp Verlag erst nach dem Ende des 2. Weltkriegs durch eine Abspaltung hervorgegangen war.
Gleichzeitig driftete Hermann Burger nun aber auch noch mehr als bisher in das Artistische im Sinne des Circensischen ab und trat sogar tatsächlich auch als Zauberkünstler auf, der verschiedenste Tricks perfekt beherrschte, wobei er aber auch immer mehr die Züge eines Automaten annahm, in der Art der „Androiden“, deren Herstellung im 18. Jahrhundert eine, wie man heute wohl sagen muss, erste „Hochzeit“ hatte und von denen "Der Schreiber", "Der Zeichner" und "Die Organistin" des Schweizer Uhrmachers Pierre Jaquet-Droz die vielleicht berühmtesten Beispiele sind.
Im Übrigen kann man hier anmerken, dass auch Thomas Mann, obwohl in einem anderen, einem tieferen und älteren Sinn, von seiner Familie „Zauberer“ genannt worden.
Möglicherweise, weil Hermann Burger von dem damals von der Holtzbrinck-Erbin Monika Schöller geleiteten S. Fischer Verlag in Frankfurt am Main keine Vorschüsse mehr bekam, wurde er 1989 dann schliesslich doch noch ein „Suhrkamp-Autor“ und kaufte sich daraufhin, als Höhepunkt seiner Allüren, vermutlich auf Pump, eine Ferrari Testarossa, mit dem er in der Schweizer Boulevardzeitung „Blick“ einmal mehr Schlagzeilen machte.
Ein Jahr zuvor, 1988, hatte er bei S. Fischer noch ein Buch mit dem Titel "Tractatus logico-suicidalis. Über die Selbsttötung" veröffentlicht.
Dem Suhrkamp Verlag hatte Hermann Burger ein auf vier Bände angelegtes Werk mit dem Titel „Brenner“ im Abstand von jeweils einem Jahr in Aussicht gestellt, aber genau einen Tag vor der Publikation des ersten Bandes der Tetralogie mit dem Titel „Brunsleben“ setzte er seinem Leben mit einer Überdosis von Medikamenten im Pförtnerhaus von Schloss Brunegg im Kanton Aargau, wo er seit 1979 wohnte, am 28. Februar 1989 im Alter von 46 Jahren selbst ein Ende.

* * *

Ich bin den Weg weiter gegangen, den ich 1972 einzuschlagen begonnen hatte, als der Suhrkamp Verlag mein erstes Buch veröffentlichte und ich in diese, wie ich sie heute nenne, Ordensgemeinschaft eingetreten bin.
Als ein Novize. Als ein Neuling, zusammen mit einigen anderen jungen Männern. Mit vier Deutschen und einem Österreicher. Von der Presse nach einem gemeinsamen Leseauftritt an der Buchmesse als "die jungen Pferde in Suhrkamps Stall" vorgestellt.
Für einen jungen Mann, der nach Max Frisch, Paul Nizon und Erica Pedretti erst der vierte Schweizer war, der in der Gemeinschaft Aufnahme fand, eine Sache, die ihn nicht unbeeindruckt liess und ihm 1974 den Entschluss erleichterte, sich von nun an freiwillig als „freier Schriftsteller“ durchs Leben zu schlagen.
Massgebend war dabei allerdings auch, dass sich zwischen dem Verleger, Siegfried Unseld, dem Mann aus Ulm, und mir sofort eine besondere Beziehung einstellte, was damit zusammenhing, dass wir beide begeisterte Schwimmer waren.
Schon am Tag nach der Gruppenlesung der „jungen Pferde“ in den Verlagsräumen an der Lindenstrasse, als Siegfried zum ersten Mal auf mich zukam und mich mit den Worten: „Ein Reisender in Sachen Umsturz!“, dem Titel meines ersten Buchs, begrüsste, hatten der Österreicher Gerhard Roth, ebenfalls ein begeisterter Schwimmer, und ich den Verleger nämlich zu seinem von ihm täglich absolvierten morgendlichen Schwimmprogramm in ein geheiztes Frankfurter Freibad begleitet, und als ich ihm erzählte, dass man in Bern in der Aare durch die ganze Stadt schwimmen könne, war er sofort Feuer und Flamme.
Und seitdem war er jedes Jahr einmal im Sommer nach Bern gekommen, um mit mir diese Schwimmstrecke zu absolvieren, und war jedes Mal hell begeistert.
Und ich war nun plötzlich mit einer Reihe der Grossschriftsteller, die dem Verlag sein Gesicht gaben und ihm sein Ansehen verliehen, per Du und wurde von ihnen freundschaftlich und umgehend als vollwertiges Ordensmitglied behandelt.
Wir trafen uns bei den Grossveranstaltungen, die der Suhrkamp Verlag regelmässig veranstaltete, einer Gedenkfeiern zum Beispiel für Bertolt Brecht in der Frankfurter Oper oder einer Zentenarfeier für Robert Walser in Zürich und in Biel, und jedes Jahr auch bei den Kritikerempfängen, die Siegfried, mit dem ich nun auch per Du war, während der Buchmesse in seiner Villa an der Klettenbergstrasse veranstaltete.
Und zu einigen dieser Schriftsteller, wie zum Beispiel zu Max, Max Frisch, dem Doyen der Schweizer Literatur im Verlag, entwickelten sich auch tiefere freundschaftliche Beziehungen.
Und dank Martin, dem Walser, begann ich, der ich in einer Familie ohne bildungsbürgerlichen Hintergrund aufgewachsen war, dann auch ein besseres Verständnis und ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass ich ebenfalls ein Angehöriger des alemannischen Sprach- und Geistesraumes war.
Aufgewachsen an seinem südwestlichen Rand, mit Grosseltern, die aus dem Schwarzwald und aus dem Badischen stammten.
Einem aus einer Bauernfamilie stammendem Grossvater, der Uhrmacher war, und einer aus einer Krozinger Bader- und Zahnarztfamilie stammenden Grossmutter, die ich beide allerdings nie hatte kennenlernen können, da sie schon vor meiner Geburt gestorben waren. Die Grossmutter schon bei der Geburt ihres dritten Kindes, als meine Mutter erst drei Jahre alt war.
Heute ist von dem, was ich im Nachhinein, als den „Suhrkamp-Orden“ bezeichne, kaum noch etwas übriggeblieben, da dieser sich bereits vor dem Tod des Ordensgründers Siegfried Unseld 2002 und danach dann in rascher Folge aufzulösen begann.
„Die Vergänglichkeit“. So hat der 1760 in Basel geborene Dichter und Schriftsteller Johann Peter Hebel das berühmteste und gewaltigste Gedicht genannt, das je im alemannischen Dialekt geschrieben worden ist, in jener Sprache, in der auch ich aufge-wachsen bin.
Mit dem Untertitel: „Gespräch auf der Straße nach Basel zwischen Steinen und Brombach, in der Nacht“.
Ein Gedicht, dessen Thema das Sterben und das Vergehen ist und in dem der Vater, der Ätti, seinem Sohn, dem Bueb, anhand der Burgruine Rötteln, an der sie mit ihrem Pferdefuhrwerk vorbeifahren, erklärt, wie dereinst selbst die in ihrer Herrlichkeit dastehende Stadt Basel und sogar die ganze Welt verfallen wird.

’s chunnt Alles iung und neu, und Alles schlicht
sim Alter zue, und Alles nimmt en End,
und nüt stoht still…
Und wemme nootno gar
zweitusig zehlt, isch Alles z’semme g’keit,
Und ’s Dörfli sinkt no selber in si Grab…
’s isch nit anderst, lueg mi a, wie d’witt,
und mit der Zit verbrennt di ganzi Welt…
, ’s isch Alles öd und schwarz,
und todtestill, so wit me luegt – das siehsch,
und seisch di’m Kammerad, wo mitder goht:
„Lueg, dört isch 'd’Erde gsi.

* * *

„Der Weg allen Fleisches“. Das ist der Titel, den Hermann Kinder 2014 einem seiner letzten Bücher gegeben hat. Diesen Weg ist er nun zu Ende gegangen, nachdem er 77 Jahre alt geworden ist.
Hermann Burger hatte seinem Weg 1989, nachdem er 47 Jahre alt geworden war, freiwillig, wenn man das so sagen kann oder will, ein Ende gesetzt.
Mich hat die Nachricht von Hermann Kinders Tod erreicht, nachdem ich am 5. September 2021 eine Notoperation wegen eines Darmverschlusses überstanden hatte. In der Berner Klinik Beausite, die ich, wenn es mir gesundheitlich gut genug geht, von meinem jetzigen Wohnort aus üblicherweise in fünf Minuten zu Fuss erreichen kann. Und in der ich seit 2012 so etwas wie eine Art Stammgast geworden bin.


Bern-Altenberg, September/Oktober 2021