Über Flugträume



Von Hartmut Löffel
I
Dass ich schlafend fliegen kann, war mir schon früh bewusst. Allerdings gehören dazu auch die richtigen Träume – Zündschnüre fürs himmelstürmende Abheben! Dieser zum Beispiel, obwohl er zunächst kein Feuer entfacht: das zu weite Eintauchen ins Wasser. Im schlimmsten Fall als Sintflut! Der entkommt man nicht – aber, wachgerüttelt im Traum, auch nicht der Erkenntnis, dass da etwas nicht stimmt: man kann ja unter Wasser atmen! Also auch hinaufschwimmen, mit ein paar Armzügen sogar in die Luft, als wäre sie Wasser, dann aber schweben und fliegen, wohin man will.
Solche Inszenierungen bis zum Aha-Moment sind manchmal, nachträglich betrachtet, äußerst übertriebene Fingerzeige, wäre da eben nicht die Begriffsstutzigkeit des Träumers. Jedenfalls der Hellste war ich damals nicht:
Ich wandere also von einer Anhöhe hinab, auf einem schmalen Zickzack-Weg, und freue mich an dem näher rückenden Tal. Urplötzlich schießt von hinten ein Wagen heran, ich mache einen Satz zur Seite, da ist er im Slalom schon vorbei! Was für ein Verrückter! Wie ist das möglich? Meinen Rucksack hat er gestreift! Hoffentlich kommt kein zweiter hinterher! Und da ist er schon, noch mörderischer als der erste, fliegt fast vorbei und überhaupt nicht aus der Kurve. Das geht doch gar nicht! Bin ich denn in einem Traum? Und schon stoße ich mich versuchsweise ab, steige mit Schwimmzügen hinauf und schwebe über das Tal. Dazu hat es dieses Mal Nachhilfe gebraucht!
Doch auch bergauf wird inszeniert. Einmal zum Beispiel so: Ich trete auf dem Fahrrad einen Pass hoch, stehe jedoch plötzlich vor einer steilen Felswand, die den Weg versperrt. Ich möchte aber unbedingt auf den Gipfel, klettere also, mit dem Rad über der Schulter, senkrecht empor und sehe auch schon das nadelspitze Ende. Wozu brauche ich eigentlich das Fahrrad? Ich hänge es über einen Vorsprung und ziehe mich weiter hinauf. Hoffentlich fällt es nicht hinunter. Und da sehe ich’s auch schon abstürzen! Ja was ist denn jetzt? Das muss ein Traum sein! Unversehens bin ich leicht, genauso schnell oben und stehe vor einer lichten Landschaft. Soll ich losfliegen? Wenn es aber kein Traum ist? Ich bin ja hellwach! Ich hüpfe ein bisschen und noch etwas höher. Todesmutig stoße ich mich schließlich ab, schreie auf und schwebe in Kreisen über ein grünes, besonntes Tal. Gleich würde ich mir ein Ziel wählen: mich strecken, den Kopf zwischen die Arme schieben und die Augen schließen …
Nachträglich betrachtet, hätte ich freilich den todesmutigen Flugsprung besser verschoben, dafür erst einmal ein paar Schwimmbewegungen aufwärts versucht oder mir Nase und Mund zugehalten und geprüft, ob Weiteratmen, wie unter Wasser, trotzdem möglich ist – wenn ich im Traum daran gedacht hätte! Ja, die Grenzziehung zwischen Wirklichkeit und Traum ist eigentlich ganz einfach: Nur im Traum kann man so fliegen oder notfalls ohne Luft weiteratmen.

Die Umwandlung des Traums im Aha-Moment in einen Klartraum ist zwar in vielen Kulturen bekannt, doch die Wissenschaft hat sich ernsthaft erst sehr spät damit befasst und mit Experimenten nachgeforscht. Diese Art des Fliegens aus eigener Kraft ist allerdings auch in der Literatur nur vereinzelt gestaltet worden, dagegen gibt es auf vielen anderen Gebieten, so in Märchen und Mythen, für Luftreisen manche unverzichtbaren Hilfen: das Aufsitzen auf geflügelte oder, je nach Kulturkreis, sogar ungeflügelte Wesen: wie Stier oder Elefant. Im indischen Märchen „Geiramma, die Brahmanentochter“ zum Beispiel verkehren heilige Elefanten zwischen der Erde und den Wohnungen der Götter, doch auch ein Adler und ein Ring aus der Hand des Gottes Indra bewirken hier die Translokation. Andererseits sind auch Verwandlungen in solche Wesen, in einen Schwan oder eine Taube etwa, möglich, oft durch einen Zauberspruch.

II
Der wohl bekannteste Flughelfer ist jedoch der Teufel. Mephisto in Goethes „Faust“ stellt am Schluss des ersten Teils in der Kerkerszene beiden Bedrohten Zauberpferde zur Verfügung, wahrscheinlich geflügelte wie etwa Pegasus. Aber Gretchen weigert sich unerwartet. Und beim Ausflug zum Hexensabbat auf den Brocken ermuntert er seinen „leicht verführten Tor“ (Vers 4199) zu einem Ritt auf dem Besenstiel (V. 3835). Den lehnt Faust jedoch eigensinnig ab, sodass beide mühsam zu Fuß hochstapfen müssen. Von einem anderen magischen Angebot überwältigt, greift er dagegen später in der „Finsteren Galerie“ des zweiten Teils „begeistert“ nach dem Schlüssel (V. 6258 ff.), der ihn zu den „Müttern“ bringt. Die daraus entstehende Katastrophe im kaiserlichen Rittersaal, bei der Faust nach einer Explosion am Boden liegt, beruht gerade darauf, dass er verblendet den Zauber für bare Münze nimmt. Er verliert deshalb die magisch heraufgeholte Helena.
In den folgenden zwei Akten geht Faust den umgekehrten Weg und sucht Helena in der Unterwelt auf. Diese Reise in die mythologische Vergangenheit hat durchaus auch Züge eines Klartraums, in dem der Träumende Regisseur ist. Nach der einschneidenden Katastrophe schläft Faust in der ersten Szene des zweiten Akts und träumt – während inzwischen Wagners Homunculus in einer Glas-Phiole als künstlicher Mensch entsteht. Dieser hochbegabte, leuchtende Geist, der auch fliegen kann, wird aufgefordert, Fausts augenblicklichen Traum zu lesen. Er schildert nun ausführlich die mythologische Szene von Leda mit dem Schwan. Seine vorausschauende Ausdeutung als „ahnungsvoll“ (V. 6933) wird wenig später in Erfüllung gehen. Denn Homunculus drängt jetzt zu einem Flug ins ersehnte Traumreich des Schläfers. Mephisto ist einverstanden, liefert das tragende Transportmittel – einen Mantel, der auch um den schlafenden Faust „umgeschlagen“ wird – und fliegt mit beiden nach Griechenland.

Dieser Flug ist jedoch für Mephisto ein anderer als für den schlafenden Faust. Für ihn ist es ein zielgerichteter Flugtraum. Seine ersten Worte, als er nach der Landung aufsteht, ist die wiederholte Frage: „Wo ist sie?“, die ihn also auch im Schlaf beschäftigt hat. Er will sich, da es vorerst niemand weiß, zu Helena durchfragen. Zunächst stößt er auf Nymphen, die ihn anregen, sich auszuruhen und ein bisschen zu schlummern. Doch Faust besteht darauf, dass er wach ist: „Ich wache ja! O laßt sie walten, / Die unvergleichlichen Gestalten, / Wie sie dorthin mein Auge schickt. / So wunderbar bin ich durchdrungen! / Sind’s Träume? Sind’s Erinnerungen?“ (V. 7271-7275). Ein Klarträumer empfindet sich als wach, auch wenn er in Wirklichkeit schläft. Bezeichnend ist in diesen Versen vor allem, dass Faust auf das Geschehen Einfluss nehmen und es steuern kann. So ruft er als nächstes die schon vorher schlafend geschaute Szene der Leda mit dem Schwan auf, bevor ihn, bereits erhofft, der erste Helfer und Helena-Vertraute in Gestalt von Chiron erreicht. Dieser – halb Pferd, halb Mensch – lässt Faust aufsitzen und trägt ihn weiter.
Allerdings ist dann die spätere Rückkehr Fausts nach dem Scheitern seiner Verbindung mit Helena, anders als bei einem Flugtraum erwartet, nicht mit einem tatsächlichen Aufwachen verknüpft. Er fliegt zwar dieses Mal allein und mit einer Wolke los, landet dann jedoch, sozusagen wieder verfestigt, in einer ganz neuen Wirklichkeit. Ist aber deshalb der große Magier, der ihm für Helena einen prachtvollen Palast hergezaubert hat, aus dem Spiel? Oder lenkt Mephisto nicht eher seinen Kumpan genau dorthin, wo er ihn demnächst haben möchte? Immerhin kündigt er ihm ihre baldige Wiederbegegnung an (V. 9954), die tatsächlich gleich am Anfang des vierten Akts stattfindet. Ja, es könnte sogar sein, dass Mephisto – in Gestalt der Phorkyas – die Wolken, die aus dem Gewand der entschwundenen Helena entstehen, selbst hervorbringt. Denn als er Faust ermutigt, sich mit dem „Kleid“ zu erheben, verwandelt es sich prompt in Wolken (V. 9945 ff.). Faust wird von ihnen umfasst, in die Höhe gehoben und dann fortgetragen. In der Szene „Hochgebirg“ entschwindet jedoch nach der Landung sein „Tragewerk“ für immer (V. 10041). Von einem weiteren Flug ist im Verlauf der Handlung nicht mehr die Rede – erst noch einmal zum Schluss bei seinem Emporschweben nach dem Tod.

III
Auf andere Weise, doch viel eindeutiger, stellt Iwan Turgenjew in seiner Erzählung „Gespenster“ einen Flugtraum ins Zentrum seiner Geschichte. Auch bei ihm geht es um eine Liebesbeziehung und um das Auftreten einer bereits Toten, die eine Wiederverkörperung sucht. Doch letzten Endes muss sie – wie Helena – wieder verschwinden, allerdings auf überaus drastische Weise, denn ein räuberisches Ungeheuer von Tod fordert sie zurück.
Dabei hat sich doch alles verheißungsvoll entwickelt: Der Erzähler liegt zunächst im Bett, möchte einschlafen, schafft es dann auch und erlebt gegen Morgen (die Hähne krähen schon) eine erste angsterregende Szene. Kurz danach folgt ein weiterer, „ungewöhnlicher“ Traum: Zum ersten Mal sieht er eine „weiße, weibliche Gestalt“, die mit ihm spricht und um ein Stelldichein bittet. Danach ist ihm gar nicht zumute und er ist „zusammenschaudernd“ wach. Nach Überwindung seiner Angst in den folgenden Tagen und nach der dritten nächtlichen Erscheinung wagt er doch ein Treffen mit der Körperlosen. Sie überredet ihn zum Fliegen und schwebt mit ihm hoch und weiter. Offensichtlich ist er unirdisch leicht! Wieder bremst ihn die Angst, dann aber bereitet ihm der Flug auch Vergnügen. Turgenjew lässt ihn nun einen klärenden Schlüsselsatz sagen: „Ich hatte mich an die Empfindung des Fliegens gewöhnt und fand sogar Vergnügen daran: das wird jeder begreifen, der im Traum geflogen ist.“ (Kap. 6)
Ungewöhnlich ist bei den geschilderten Flügen nur, dass sich der Abhebende und Entrückte nicht irgendwann auch einmal selbst fortbewegt. Er lässt sich von Anfang an tragen. Dabei sagt ihm seine Gefährtin, was er tun soll, wenn es ein schneller oder weiter Flug wird: „Schließe nur die Augen und halte den Atem an.“(Kap. 5) Und wenn es sehr weit ist – etwa nach Italien, England zu oder bis Paris – bedeckt sie ihn mit dem Ende ihres Ärmels, denn er wird bei der Geschwindigkeit fast besinnungslos. Die Rollen sind dabei deutlich verteilt: Er bestimmt die Ziele und sie trägt ihn hin: „Ich kann dich tragen, wohin es dir beliebt – an alle Enden der Welt.“ (Kap. 5) Und an anderer Stelle sagt sie: „Für uns gibt es keine Entfernung.“ (Kap. 8) Wohin er möchte, das müsste er eigentlich gar nicht sagen, denn sie kann seine Gedanken lesen und weiß sie sogar im Voraus. Am liebsten sind ihm Landschaften und so gibt es detailreiche Schilderungen von Gegenden, die Turgenjew, der Vielreisende, besucht hat. Ellis, so heißt sie, kennt sogar jeweils die Namen: Mannheim, Schwetzingen und der Schwarzwald liegen nächtlich auch einmal unter ihnen. Kritisch für ihn sind aber Großstädte wie Paris, das ihn anekelt, ebenso wie das „sieche“ Sankt Petersburg mit seinen abstoßenden Einzelheiten. Der ganze Erdball wird ihm suspekt mit seinen „Fliegenmenschen, tausendmal nichtiger als die Fliegen selbst“, und zum Schluss bleibt nur noch Abscheu, auch vor sich selbst. „Hör auf“, flüsterte Ellis, „hör auf, sonst wird’s mir unmöglich, dich zu tragen. Du wirst zu schwer.“ Zu „ertragen“ hätte sie auch sagen können. Umgekehrt darf man also daraus schließen, dass seine anfängliche Leichtigkeit nicht physisch war. Auch er ist verdrossen, vielleicht sogar ihrer überdrüssig, weil ihre Eifersucht ihn nervt. Und so verschuldet er den Schluss der Geschichte unbesonnen mit. Es kommt zum Sturz und zur Besinnungslosigkeit. Als er aufwacht, liegt er neben der Wiederverkörperten und zugleich Todgeweihten. Sie verabschieden sich noch, dann ist sie verschwunden.
Ist dies nun alles real oder weiterhin ein Traum? Der Leser ist im Ungewissen, denn der Gestürzte steht schließlich auf und geht noch zwei Werst weit zu Fuß nach Hause. Wahrscheinlich aber ist dies doch noch Teil des Klartraums. Eine Nacht zuvor nämlich wird er direkt vor seinem Haus abgesetzt. Als er hineingehen will, heißt es: „Der Hofhund näherte sich mir, betrachtete mich mißtrauisch – und lief dann heulend wieder davon.“ (Kap. 16) Würde ein Hund so reagieren, wenn sein Herr leibhaftig zurückkommt?

IV
Ein dritter Autor verknüpft einen Flugtraum noch enger mit dem Schläfer: Wilhelm Busch in seiner Erzählung „Eduards Traum“. Er lässt am Anfang einen vorgeschobenen Freund schildern, wie er den Körper verlässt und in seine Nasenlöcher sieht, danach noch zu seinem „ehemaligen Körper“ schwebt – „Da lag er; Augen zu, Maul offen, ein stattlicher Mann.“ –, wie er sich dann mit neuer Gestalt und nur noch als ein Punkt im Spiegel betrachtet, während seine Frau ihn mahnt: „Eduard, schnarche nicht so!“ Genervt geht er „telegraphisch gedankenhaft“ mit einem „Seitenwischer direkt durch die Wand“ auf Reisen. Weit wird er herumkommen und, wie es Busch liebt, mit aufspießenden Beobachtungen und dem Aufspüren fataler Vorfälle. Und dazwischen ertönt immer wieder das Leitmotiv seiner mahnenden Frau: „Eduard schnarche nicht so!“ Nein, als Klarträumer verliert er nicht das Bewusstsein, dass sein Körper schläft, und er kann bei Bedarf in ihn zurückkehren.
Zunächst gelangt er in eine andere, ganz ungewöhnliche Welt: zu lebenden Zahlen, dann zu zweidimensionalen geometrischen Wesen, zu hohlen Menschen ohne Schwere und schließlich zur Welt der „aparten Körperteile“, in der Köpfe, Hände und Füße für sich allein leben. Da ist ihm die gewöhnliche Welt doch lieber, und die ist schon ungewöhnlich genug. Wenn er dort eine Häuserzeile entlangfliegt und in die Stockwerke blickt, entstehen kleine, rasch hingeworfene Szenen, vielleicht sogar als Kerne für spätere Bildgeschichten, ebenso, wenn er einen fahrenden Zug entlangschwirrt oder, etwas breiter ausgeführt, als er über einer Landstraße schwebt. Doch er nimmt sich auch wiederholt Zeit zum Ausmalen: Beim Flug über einer Metropole macht er sogar einen Abstecher ins Theater, besucht ein Museum und dazu den Kunstverein. Ganze Geschichten sind manchmal eingeschoben, sodass der Flug zur Nebensache wird: zum Beispiel der heimliche Besuch Eduards bei einem „wahrhaft guten Menschen“, dem es aber am Schluss übel ergeht, oder seine Vorsprache bei einem „weltberühmten Naturphilosophen“, ein skurriler Kauz, der ihm die Wirkung der Dinge erklärt. Was für eine komische Szene und natürlich noch umso mehr, wenn man ihr die Begegnung des Homunculus mit dem Naturphilosophen Thales zur Seite stellt. (Faust, 2. Teil, 2. Akt)
Dem Schluss der Geschichte zu geht es dann bergauf auf einem steilen Weg, der zugleich für einige zur Rutschbahn zu einem Wirtshaus wird. Eduard muss nun wiederholt erfahren, dass er nicht mehr durch Wände fliegen kann, und fällt erschöpft ins Gras. Im Finale wird er von einem Teufelchen verfolgt, rettet sich ins offene Maul eines schlafenden Riesens – der er am Anfang der Geschichte war – und kann schließlich aufwachen.
In einem kurzen Zwischenstück geht aber der Ausflug Eduards noch viel weiter, nämlich in den Kosmos: „Ich wollte doch eben mal nachsehn, ob die Welt eigentlich ein Ende hätte oder nicht.“ Ein lang gehegter Plan. Dabei meint er mit „Welt“ lediglich die Erde. Anfangs nur mit pfeilschneller Geschwindigkeit, rast er aber bald an einem Kometen vorbei und „wenige Sekunden später“ passiert er sogar den Tierkreis. Mit einem weiteren Satz durchstößt er „die äußere Kruste der Welt“ und fliegt in den „leeren, unermeßlichen Raum“. Von dort aus kann er die „Weltkugel“ betrachten: „Sie hatte wirklich ein Ende und sah von weitem aus wie ein nicht unbedeutender Knödel, durchspickt mit Semmelbrocken.“ Doch die Angst, „ganz allein in der leeren Dunkelheit zu sitzen, wo es obendrein kalt war“, treibt ihn zurück. Er erwischt den „Schwanz des Kleinen Bären“, rutscht von da aus „ein gutes Stück weit an der Himmelsachse hinunter“ und springt in die gemäßigte Zone hinab.

Was für ein Flug! Dabei erkennt Eduard nur wenig mehr als Faust im Spieß’schen Volksbuch von 1587. Allerdings ist der Wissensdurstige und „Gestirnseher“ dort in Begleitung Mephistos und fährt in einem Wagen mit zwei fliegenden Drachen. Acht Tage ist er unterwegs, und auch er bezeichnet die Erde als „Welt“: „Im Herabfahren sahe ich auf die Welt, die war wie der Dotter im Ei, und gedauchte mich, die Welt wäre nicht einer Spannen lang, und das Wasser war zweimal breiter anzusehen.“
Welch große Geschwindigkeit muss also Eduard haben, um mal kurz bis zu 700 Lichtjahre zurückzulegen! Und ob ihm von da aus wohl noch die Erde, wie er sagt, „in ziemlicher Entfernung grad gegenüber lag“? „Telegraphisch gedankenhaft“ war er anfangs durch die Wand unterwegs und „sofort“ „im Gebiete der Zahlen“. Vielleicht ging es dann ja allein „gedankenschnell“ weiter und, wie Turgenjew schreibt, ohne dass Entfernung eine Rolle spielt.

V
Mit Traumflügen habe ich es vor langem schon einmal selbst ausprobiert. Zuerst wollte ich auf die Rückseite des Monds, später auch zum Mars. Und ich war gespannt, und wie erst angespannt, als ich nach einer Traumeröffnung in der gestreckten Kopfsprunghaltung das Ziel wählte. Soll ich sagen, dass ich wie eine Rakete losschoss? Durchaus! Ja, schon irgendwie angeschoben, oder auch, wie Turgenjew sagt, sogar getragen: einen angehaltenen Atemzug lang – dann war ich dort … und wie überrascht: Die Rückseite war gar nicht dunkel und ich sah sofort auch Krater und flog auf einen zu, verlor mich aber dann in Einzelheiten, bekam plötzlich, etwa wie ein Taucher in Felsverzweigungen verstrickt, Angst, dass ich nicht mehr zurückfinde, und brach die Expedition ab. So steht es in meinem Traumtagebuch. Also musste ich üben. Den Mars habe ich dann doch noch erreicht, ebenfalls in einem Atemzug, mich aufmerksam umgesehen – aber in dieser Öde fühlte ich mich letztlich wie ausgesetzt. Was sollte ich hier? Zum Beweis nahm ich wenigstens eine Handvoll Boden mit, den ich besonders fest mit den Fingern umschloss. Als ich dann aber aufwachte und die Faust öffnete, war sie leer.
Mein weitester Ausflug allerdings ging bis in die Nähe des Sirius, also fast 9 Lichtjahre weit. Und wie seltsam er wurde! Dabei war es eigentlich gar nicht mein Ziel, sondern ich wollte dieses Mal im Weltall jemand Lebendigen sehen. Und so habe ich’s, bereits in Startstreckung, auch gewünscht. „Den Atem anhalten!“, forderte mich eine Stimme auf, und ich dachte: „Wie kann ich denn das so lang aushalten?“ Und nochmals wurde ich ermahnt. Dann schossen wir los. So schnell ging es diesmal nicht, und ich musste unbedingt atmen, konnte keinen anderen Gedanken mehr fassen, als Luft zu schnappen, tat es dann auch heimlich und hielt wieder still – und war da. Also in zwei Atemzügen jetzt! Ich schwebte vor einem Eisgebirge und gleich ruhig drüber hinweg, sah dann herabstoßend in einen Innenhof, erblickte dort zweistöckige Holzbauten – unten halboffen, ich dachte kurz an Florenz –, und davor standen weißhaarige Wesen, als trügen sie Perücken. Konnten sie mich sehen? Ich flog um sie herum und zupfte sie an den Haaren. Das hätte ich im Wachen nicht gemacht! Nein, sie hatten keine Augen, versuchten mich dafür mit ausgestreckten Fingern zu orten. Ich kreiste unsichtbar weiter. Inzwischen brachten sie einen Helfer. Er fixierte mich, richtete seine Finger auf mich und rief: „Ich sehe dich, geh weg!“ Dass ich von der Erde sei, interessierte ihn gar nicht. „Du störst!“ „Gut“, gab ich zurück, „aber, bitte, was ist das hier für ein Stern und wo?“ „In der Nähe des Sirius“, tönte es her. Da flog ich auf und winkte ihm. Seine Hände zuckten zum Abschied. Ohne Umschweife wollte ich zurück und aufwachen! Doch hinter dem Eiskamm hielt mich erst noch jene Stimme auf und drängte, dass ich mich richtig streckte. Zurück also! Im Nu geschah es – und ich lag im Bett.
Und hinterher? Da stellen sich aber doch ein paar Fragen: War ich wirklich beim Sirius? Und wie konnten wir uns überhaupt verstehen? Und woher wusste der Fremde, den die Erde nichts anging, unseren Namen „Sirius“? War vielleicht alles nur Einbildung, Vorspiegelung? Oder sind vielleicht andere Ziele lohnender? Zum Beispiel das Totenreich! Helena würde mich nicht gerade locken – aber die und jene Verstorbenen schon. Und trotzdem: noch viel weiter hinauf, das geht mir nicht aus dem Kopf. Sphärenmusik möchte ich über alle Maßen gern hören! Ob es die wohl gibt?

Anmerkungen

Kapitel I:
Quelle zum indischen Märchen „Geiramma, die Brahmanentochter“: Märchen und Mythen vom Fliegen, Fischer Taschenbuch Verlag, 1989, S. 14.

Kapitel III:
Die Verszahlen nach: Goethes Faust, der Tragödie erster und zweiter Teil, Urfaust, kommentiert von Erich Trunz, Christian Wegner Verlag, Hamburg 1963. 101. Band der Reihe „Die Bücher der Neunzehn“.

Kapitel IV:
Wilhelm Busch, Sämtliche Werke 2, Bertelsmann Verlag, München 1982, S. 403 ff.
Deutsche Volksbücher, Rowohlt, 1968, S. 96: „Wie D. Faustus in das Gestirn hinauf gefahren“.

Aus: Hartmut Löffel, "Streifzüge und Streifflüge", Wiesenburg Verlag, Schweinfurt